Am Freitagabend (28. Juni) ist eine S-Bahn im alten Mainzer Tunnel liegengeblieben, etwa 200 Menschen waren über Stunden in den Abteilen eingeschlossen (wir berichteten). Unter den Betroffenen war auch eine Wiesbadenerin mit ihrem achtjährigen Sohn. Gegenüber Merkurist schildert sie, wie dramatisch sie die Situation im Zug empfunden hat – und wieso sie nun darüber nachdenkt, Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung zu stellen.
Die S-Bahn blieb gegen 18 Uhr im Tunnel unter dem Kästrich auf der Strecke zwischen dem Bahnhof Römisches Theater und dem Mainzer Hauptbahnhof liegen. Offenbar gab es einen technischen Defekt am Zug. Die Wiesbadenerin nahm zunächst nur wahr, dass die Fahrt nicht weiterging und die Notbeleuchtung eingeschaltet wurde. Doch als der Lokführer nach einigen Minuten durch ihr Abteil ging und die kleinen Klappfenster oben mit einer Werkzeugstange öffnete, befürchtete sie bereits, dass es länger dauern könnte. Da das Abteil ohne Strom war, funktionierte die Klimaanlage nicht, die Außentemperatur lag an dem Tag bei bis zu 28 Grad.
Hilfe wurde schnell versprochen – und kam nicht
Der Lokführer habe die Gäste zuerst mit der Durchsage beruhigt, dass das Notfallmanagement der Deutschen Bahn informiert sei und bald komme. Doch nach einer knappen Stunde hätten immer mehr Fahrgäste die Sprechstelle gedrückt, weil sie auf die Toilette mussten. Die S-Bahn hatte keine sanitären Anlagen. Der Lokführer hätte dann durchgesagt, die Männer sollten im Notfall die „Aschenbecher“ nutzen – er habe wohl die kleinen Mülleimer an den Sitzen gemeint –, für die Frauen habe er keine Lösung.
Hierauf spitzte sich die Lage laut der Mutter deutlich zu. Da ihr achtjähriges Kind wegen der gedrückten Stimmung im Halbdunkel bereits Angst gehabt habe, sei sie mit ihm in die erste Klasse gegangen und dort herumgelaufen. Kurz darauf sei eine schwangere Frau an sie herangetreten, die sich sichtlich geschämt habe. Sie hätte ihren Drang nicht mehr halten können und die Wiesbadenerin darum sichtlich ungern gebeten, mit ihrem Kind zurück in die zweite Klasse zu gehen, damit sie hinter den Türen auf den Boden pinkeln könne. „Die arme Frau hat sich so geschämt. Ich bin kurz darauf wieder zu ihr reingegangen, da war sie panisch dabei, ihren Urin mit den Händen aufzuwischen. Ich habe dann versucht, sie zu beruhigen“, erzählt die Wiesbadenerin.
Mann kollabiert
Weil inzwischen außerdem ein junger Mann in ihrem Abteil kollabiert war und die mehrfach angekündigte Hilfe nicht kam, entschloss die Wiesbadenerin sich gegen 19:25 Uhr, als erste im Zug die 112 zu wählen. „Und dann stellte sich heraus, dass die Feuerwehr von nichts weiß“, so die Mutter. Man müsse herausfinden, wo genau der Zug sei, hätte man ihr am Telefon gesagt. Die Fahrgäste dürften die Bahn nicht verlassen, weil der Zugbetrieb eventuell noch laufe.
Gegen 19:45 Uhr spitzte sich die Situation aus Sicht der Wiesbadenerin zu: Der kollabierte Mann sei nicht mehr ansprechbar gewesen, vielen Leute hätten über Durst geklagt und unter der Hitze gelitten, ihrem Sohn sei schlecht gewesen. Darum hätte sie ein zweites Mal die Feuerwehr angerufen, die Auskünfte seien aber größtenteils dieselben geblieben. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie bereits gereizt reagiert – etwa, weil der Zugführer den Fahrgästen mitgeteilt hätte, dass die Strecke gesperrt sei, die Feuerwehr dies aber abstritt.
Um 19:59 Uhr hätten die Fahrgäste gemeinsam beschlossen, dass der kollabierte Mann dringend Luft brauche. Im Empfinden der Wiesbadenerin war die Lage eskaliert: „Die Leute hingen förmlich an den Kippfenstern, diese Bilder muss ich erst einmal verarbeiten“, so die Wiesbadenerin. Ein Mann in ihrem Abteil hätte dann die Notentriegelung an einer der Zugtüren betätigt und die Fahrgäste hätten den Kollabierten gemeinsam nach draußen gehoben.
Derweil rief die Wiesbadenerin erneut die Feuerwehr an, mehrere andere Fahrgäste hatten inzwischen ebenfalls den Notruf gewählt. Die Mutter machte sich mittlerweile nicht mehr nur große Sorgen um den kollabierten jungen Mann, sondern auch um ihren achtjährigen Sohn. Der hatte sich aus der geöffneten Zugtür heraus übergeben und brauchte ihrer Meinung nach dringend Luft. Der Zugführer hätte unterdessen vor der geöffneten Tür im Tunnel gestanden, von der Türschwelle aus sei es weit nach unten gegangen. „Ich war verzweifelt und schrie den Mann an, dass er jetzt mein Kind nehmen soll“, erzählt die Mutter mit brüchiger Stimme. „Als er das gehört hat, sagte der Feuerwehrmann am Telefon zu mir, dass er auflegt, wenn ich mein Kind nach draußen gebe. Ich habe es trotzdem getan und er hat dann wirklich einfach aufgelegt“, so die Wiesbadenerin.
„Die standen da und haben gegafft“
Kurz darauf seien endlich Feuerwehrleute von beiden Seiten des Tunnels her auf sie zu gelaufen. Allerdings hätte niemand mit ihr gesprochen und auf die Frage nach Wasser sei sie mit einem „Das kommt gleich“ abgespeist worden. Niemand hätte sie und ihre Sorge ernstgenommen und ihr Hilfe angeboten oder Anweisungen gegeben. Sie habe noch gehört, dass das Notfallmanagement der Bahn jetzt auch eingetroffen sei. Gemeinsam mit der Feuerwehr habe das Bahnpersonal dann begonnen, den Zug von dem Abteil aus zu evakuieren, das noch teilweise aus dem Tunnel ragte – dem einzigen, das noch Strom und damit auch eine Klimaanlage hatte. Hierauf sei ein Fahrgast aus ihrem Abteil ausgerastet und habe geschrien, dass das doch nicht sein könne und die Feuerwehr bei den Abteilen ohne Klimaanlage mit der Evakuierung beginnen müsse.
Kurzerhand sei die Wiesbadenerin dann mit ihrem Kind losgelaufen und habe gesehen, dass es eine Nottreppe gab. „Die war richtig lang, ich habe sie kaum geschafft. Und nirgendwo gab es Begleitung von Feuerwehr oder Rettungsdienst“. Oben hätte sie zwei Feuerwehrleute gesehen, „die standen da und haben gegafft“.
Endlich am Ende der Treppe angekommen, sei sie nicht in Empfang genommen worden. Sie sei zu dem Zeitpunkt außer sich gewesen und man habe ihr auf ihre Rufe hin nur irgendwann gesagt, sie solle sich beruhigen. Als sie dann nach Wasser fragte, hätte ein Mitarbeiter der Johanniter nach einer Weile zwei Kästen Sprudelwasser aus einem Rettungswagen geholt. „Zwei Kästen für so viele Menschen, da frage ich mich, was das bringen soll“, so die Mutter.
Zuletzt hätte sie sich noch selbst darum kümmern müssen, zu verstehen, wo sie war, nämlich am Gautor. Auch hätte niemand ihr geholfen, von dort wieder wegzukommen. Sie hätte ihren Nachbarn anrufen müssen, der sie abgeholt habe.
Unterlassene Hilfeleistung?
Insgesamt fragt sich die Wiesbadenerin, wieso es so weit kommen musste. Sie fühlt sich vom Notfallmanagement der Deutschen Bahn im Stich gelassen und von der Feuerwehr nicht ernst genommen. Zudem fand sie die Darstellung der Ereignisse vonseiten der Feuerwehr beschönigend.
„Aus meiner Sicht ist es großes Glück, dass nicht mehr passiert ist. Wir müssen jetzt sehen, wie wir damit fertigwerden“, erzählt sie stockend, „es gab auch kein Angebot einer Notfallseelsorge, Entschädigung oder so“. Mit ihrem Sohn habe sie den Tunnel mit Schuhschachteln nachgebaut, damit er das Erlebte verarbeiten könne. Er wolle das zwar, könne aber noch nicht allein damit umgehen.
Jetzt überlege sie, ob sie Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung stelle. „Aber dann muss ich das alles nochmal erzählen und sie sehen ja, wie es mir damit geht“, sagt sie. Sie fühle sich von den offiziellen Stellen, angefangen beim Lokführer, allein gelassen. „Immerhin war der Zusammenhalt im Abteil groß, alle waren hilfsbereit und haben versucht, sich gegenseitig zu unterstützten. Auch zu meinem Kind waren alle sehr freundlich“, sagt die Wiesbadenerin abschließend.
Das sagt die Deutsche Bahn
Wir haben die Deutsche Bahn (DB) mit den Schilderungen der Mutter konfrontiert. Wie ein Sprecher der Bahn auf Merkurist-Nachfrage sagte, wolle die DB sich „zunächst bei allen Fahrgästen für die entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigen“ und bedauere sehr, dass sie die Reisenden in diese Situation gebracht habe. Man bedanke sich auch für die Geduld der Reisenden.
„Klar ist: Die genaue Position und Lage des S-Bahn-Zuges waren zu jedem Zeitpunkt bekannt. Kommt ein Reisezug unvorhergesehen auf freier Strecke zum Halten, besprechen Lokführer:innen, Fahrdienstleiter:innen und die entsprechenden Koordinator:innen in der Betriebszentrale und der Leitstelle des Eisenbahnverkehrsunternehmens (EVU), was die beste Lösung für die Reisenden im Zug und den weiteren Zugverkehr auf der Strecke ist. Zusätzlich wird das Notfallmanagement des EVU durch dessen Leitstelle alarmiert“, so der DB-Sprecher weiter.
Zunächst hätten Lokführer und Leitstelle aber noch versucht, den Zug durch einen Software-Reset wieder zum Fahren zu bringen. Nachdem dies scheiterte, habe man gemeinsam mit der Feuerwehr die Evakuierung eingeleitet. Vor der Evakuierung hätten allerdings kurzfristig „umfangreiche Abstimmungen zwischen den beteiligten Stellen und Behörden“ stattfinden müssen. Vor allem habe garantiert werden müssen, dass „beide Tunnelröhren frei von Zügen, die Strecke gesperrt und die Oberleitung abgeschaltet“ sei.
Normalerweise würde das Zugpersonal in so einem Fall regelmäßig über die Lautsprecher über den Stand der Dinge und Fortschritte informieren. Wenn der Lokführer allerdings allein sei, hätten „die betrieblichen Handlungen Vorrang“.
Die DB wolle auf eine Sache explizit hinweisen: „Auch bei hohen Temperaturen sind alle Reisenden aus Sicherheitsgründen zunächst angehalten, im Zug zu bleiben, auf Anweisungen des Zugpersonals oder der Behörden zu warten und niemals eigenmächtig auszusteigen. Bahnanlagen dürfen nur von autorisierten Personen betreten werden. Das eigenmächtige Betreten der Gleise ist in einem solchen Fall lebensgefährlich.“
Die Sicherheit der Reisenden habe für die DB höchste Priorität. Ziel sei natürlich trotzdem, „alle Reisenden schnellst- und bestmöglich entweder in andere Züge zu bringen oder alternativ sicher weiterreisen zu lassen.“
Auf die Frage nach einer potenziellen Entschädigung für die Fahrgäste geht der DB-Sprecher nicht ein. Auch warum das einzige Abteil, in dem noch Strom und damit eine Klimaanlage eingeschaltet war, zuerst evakuiert wurde, bleibt unbeantwortet.
Eine ausführliche Stellungnahme der Mainzer Feuerwehr könnt unter diesem Link auf merkurist.de lesen. Wichtig ist aus Sicht der Feuerwehr: An dem Einsatz waren viele ehrenamtliche Kräfte beteiligt, die trotz der hohen Temperaturen und der Tageszeit sofort bereit waren, zu helfen.“