Es waren dramatische Szenen, die eine Mutter gegenüber Merkurist schilderte: Am 28. Juni war sie mit ihrem Kind etwa zweieinhalb Stunden in einem Zug gefangen, der im Mainzer Tunnel feststeckte. Die S-Bahn war bei bis zu 28 Grad ohne Klimaanlage, ihrem Kind war nach kurzer Zeit übel, im Abteil kollabierte ein junger Mann und die Evakuierung ließ auf sich warten. Die Bahn hat zu den Schilderungen der Passagierin bereits Stellung bezogen. Nun hat auch die Feuerwehr sich in einem Gespräch mit Merkurist geäußert.
Mark Jüliger, Abteilungsleiter der Technik bei der Feuerwehr Mainz, leitete am letzten Freitag im Juni den Einsatz der Feuerwehr an der liegengebliebenen S-Bahn. Er schilderte gegenüber Merkurist am Montag (1. Juli) chronologisch, wie er die Ereignisse erlebte. Aus seiner Sicht begann alles damit, dass um 19:26 Uhr der erste Notruf aus dem Zug bei der Feuerwehr Mainz einging. Eine Person habe am Telefon gesagt, dass sie seit anderthalb Stunden ohne Wasser und Toiletten in einem Zug im Tunnel festsitze, ersten Zuginsassen werde übel. Daraufhin habe die Feuerwehr Kontakt zur Notfallleitstelle der Bahn aufgenommen und von dort nach einigen Minuten die Rückmeldung bekommen, dass das Fahrzeug im Tunnel eine Störung habe, noch kein Gleis gesperrt sei, Strom aber vorhanden sei. Dem letzten Punkt widerspricht der Bericht der Zuginsassin, demzufolge nur das Abteil, das als einziges noch teilweise aus dem Tunnel herausragte, noch Strom hatte.
„Da ist Tunnel gleich Tunnel“
Danach seien um 19:40 Uhr die ersten Kräfte alarmiert worden. Das Ziel der Feuerwehrleute sei zunächst der Hauptbahnhof gewesen, weil laut Jüliger „nicht hundertprozentig klar war“, wo genau der Zug sich befinde. „Man kann von einem Zuginsassen nicht erwarten, dass er weiß, ob er in dem neuen oder dem alten Mainzer Tunnel steht“, so der Einsatzleiter, „da ist Tunnel gleich Tunnel“. Dementsprechend habe er erst aufklären wollen, wohin genau die Feuerwehr fahren müsse.
Auf die Frage, warum die Bahn der Feuerwehr nicht sagen konnte, wo der Zug sich befinde, sagt Jüliger: „Ja, die Bahn hat Aussagen getroffen – auch später noch –, die aber alle auf den neuen Mainzer Tunnel hinwiesen und sich später als falsch herausstellten.“ Demgegenüber steht die Stellungnahme der Bahn, der zufolge ihr „die genaue Position und Lage des S-Bahn-Zuges […] zu jedem Zeitpunkt bekannt“ gewesen sei. Der Tunnel zwischen dem Bahnhof Römisches Theater und dem Mainzer Hauptbahnhof besteht aus zwei Röhren, wovon vom Hauptbahnhof aus gesehen die rechte die neuere ist. Die Bahn habe bis mindestens 19:46 Uhr behauptet, dass der Zug im Gleis 3520 stehe. Dieses befinde sich in der neuen Röhre. Der Zug stand aber in der alten.
Am Hauptbahnhof habe Jüliger sich dann mit Kollegen im Büro der Bundespolizei postiert. Die Bundespolizisten hätten zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von dem liegengebliebenen Zug gewusst. Sie hätten dann ebenfalls telefoniert, in diesem Fall mit der Servicestelle der Deutschen Bahn im Mainzer Hauptbahnhof, der sogenannten 3S-Zentrale. Auch aus diesem Telefonat sei die falsche Aussage hervorgegangen, dass der Zug im neuen Mainzer Tunnel stecke.
Gleise dürfen nur nach Fax betreten werden
Daraufhin habe Jüliger Anweisung gegeben, dass die Feuerwehrleute draußen alle nötigen Vorbereitungen dafür treffen sollten, in den Tunnel zu gehen. Zunächst habe er dabei, seinem Informationsstand entsprechend, an die rechte, also neue Tunnelröhre gedacht. Es sei allerdings festgelegt, dass Feuerwehrleute die Gleise erst betreten dürften, wenn ein schriftliches Fax von der Bahn vorliege, dass bestätige, dass die Kräfte die Gleisanlagen betreten könnten. Das habe er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt.
Kurz darauf aber habe sich die Lage für Jüliger stark verändert – nämlich als er gegen 19:55 Uhr zuerst erfahren habe, dass eine Person in dem liegengebliebenen Zug kollabiert sei, und unerheblich später von der Bundespolizei informiert worden sei, dass der Zug doch in der alten Tunnelröhre stecke. Das machte für Jüliger einen entscheidenden Unterschied, denn der alte Mainzer Tunnel verfügt am Kästrich über einen Einschnitt. Der Einsatzleiter entschied daraufhin, selbst mit Bundespolizisten zusammen zu diesem Einschnitt zu fahren, und alarmierte weitere Kräfte dorthin, darunter Rettungskräfte und einen Notarzt.
Am Einschnitt angekommen konnte Jüliger von oben sehen, dass der Zug tatsächlich in der alten Röhre steckte, „weil er mit 50 Metern aus dem Tunnel herausgeragt hat“. Das habe er dann überallhin zurückgemeldet.
Bahn beginnt ohne Absprache mit Evakuierung
Zudem habe er von seinem Standort aus erkennen können, dass sich bereits Bahnmitarbeiter bei dem Zug befanden. Er sei dann die „große, tiefe Eisenbrücke“ vor Ort heruntergegangen. Währenddessen seien ihm bereits die ersten Insassen aus dem Zug entgegengekommen.
Als er nach unten gegangen sei, hätten sich die Bahnmitarbeiter, die Jüliger von oben gesehen hatte, als Personal des Regio-Notfallmanagements herausgestellt. Sie hatten die Evakuierung des Zuges von dem Ende aus begonnen, das noch aus dem Tunnel herausragte. Die Bahnmitarbeiter hatten den Beginn der Evakuierung also ohne Rücksprache mit der Feuerwehr begonnen. Die Abstimmung habe dann aber in der Folge stattgefunden.
„Es war etwa kurz nach acht, die Kollegen standen noch vorne am Portal, und wir hatten noch keine Freigabe, dass die Gleise gesperrt sind, und konnten somit auch diese Gleisanlage nicht betreten.“ Auf die Frage, warum dann die Bahnmitarbeiter bereits auf den Gleisen gewesen seien, sagt Jüliger: „Ich weiß es nicht.“ Noch um 19:46 Uhr habe er jedenfalls „die definitive Aussage gehabt: ‘Die Gleise sind nicht gesperrt.’“
Insofern sei es absolut folgerichtig gewesen, dass seine Kollegen am Notruftelefon auch dann noch die Anweisung gegeben hätten, den Zug nicht zu verlassen. „Das ist gefährlicher als die Probleme, die bis dahin da waren.“ Damit antwortet Jüliger auf den Bericht der Mutter im Zug, die überzeugt war, dass der kollabierte Mann in ihrem Abteil und ihr eigenes Kind, das inzwischen erbrochen hatte, um diese Zeit dringend aus dem Zug heraus gemusst hätten.
Konkret hatte die Mutter nach eigenen Angaben gerade zum dritten Mal über den Notruf mit der Feuerwehr telefoniert, als andere Passagiere aus ihrem Abteil die Notentriegelung an einer Tür gegen die Anweisung des Lokführers öffneten. Das hätten sie ihr zufolge getan, weil es dem kollabierten Mann aus ihrer Sicht schlechter ging und sie fanden, dass er dringend an die Luft müsste. Als die Tür einmal geöffnet gewesen sei, habe ihr Kind sich aus dem Zug heraus übergeben und die Mutter sei verzweifelt gewesen. Sie habe den Lokführer, der vor der Tür stand, angeschrien, dass er ihr Kind jetzt nach draußen nehmen müsse. Daraufhin hätte der Feuerwehrmann, den die Mutter am Telefon hatte, damit gedroht, aufzulegen, wenn sie ihr Kind nach draußen geben würde. Als sie es dann getan hätte, hätte ihr Gesprächspartner tatsächlich aufgelegt.
Wie Feuerwehr-Einsatzlenker Stefan Behrendt dazu sagt, habe man sich die Aufnahme des Notrufs angehört, das Gespräch sei nämlich standardmäßig aufgezeichnet worden. Nachdem die Frau angekündigt habe, dass sie das Kind jetzt aus der Tür halten werde, habe der Feuerwehrmann am Telefon gesagt: „Tun Sie das nicht, die Gleise sind noch nicht gesperrt.“ Dem habe sich die Frau verbal widersetzt und erneut geäußert, sie werde das Kind aus dem Zug halten. Darauf habe der Feuerwehrmann erwidert: „Wenn sie das machen, kann ich Ihnen auch nicht helfen. Dann müssen wir das Gespräch beenden.“ Aufgelegt habe er aber nicht.
Wie die Feuerwehr tätig werden konnte
Auf die Frage, ob er die Passagiere, die ihm bereits entgegenkamen, gefragt hätte, warum sie denn schon auf den Gleisen unterwegs seien, sagte Jüliger: „Mein Ziel war, die Gesamtlage zu erkunden. Die hochkamen – das waren alles junge Leute –, sahen alle fit aus. Die sind so schnell an mir vorbeigelaufen, wie ich die Treppe runtergelaufen bin.“ Die Oberleitung hätte zu keiner Zeit eine Gefahr dargestellt, außerdem hätte der Zug im Tunnel auf der Seite bei der Treppe gestanden. Insofern seien die Leute, die aus dem Zug in Richtung Treppe liefen, selbst dann keiner großen Gefahr ausgesetzt gewesen, wenn ein Zug durchgefahren wäre.
Um 20:18 Uhr habe die Feuerwehr dann das Fax erhalten, das die von ihm beantragte Gleissperrung bestätigt habe. Darin stand, dass beide Gleise ab 20:07 Uhr gesperrt seien. Daraufhin hätte Jüliger „den Bereich erkundet“, er sei also den „Langzug“ abgelaufen. Dabei habe er nach der kollabierten Person gesucht. Als er sie gefunden habe, habe er gesehen, „dass die Person von Passanten betreut wurde und gucken konnte. Sie war also bei Bewusstsein und hat auf mich den Eindruck gemacht, dass sie sich schon erholt hatte.“
Man habe ab diesem Zeitpunkt mit dem Notfallmanagement der Bahn zusammengearbeitet, um die restliche Evakuierung gemeinsam zu leisten. „Die hatten dafür eine passende Leiter. Wir haben nur Leitern, die sind mindestens 2,50 Meter groß. Damit hätten wir mindestens eine dreiviertel Stunde was machen müssen. Die eine Leiter der Bahn war ausreichend, um alle rauszuholen der Reihe nach.“
Warum zuerst das Abteil mit Strom evakuiert wurde
Die Einheit der Feuerwache 1 habe dann begonnen, von der Tunnelseite zum Hauptbahnhof hin aus den Zug zu evakuieren – „auch ohne Leiter“. Die kollabierte Person sei versorgt worden und zuletzt habe man geprüft, „ob noch irgendwo jemand anders liegt“.
Warum die Bahn bei dem Zugabteil mit der Evakuierung begonnen hatte, das als einziges noch Strom und damit eine Klimaanlage hatte, kann Jüliger nicht sagen. Er habe gesehen, dass an dem Abteil, in dem die Person kollabiert war, die Türen aufgestanden hätten und auch schon weitere Personen außerhalb des Abteils gewesen seien. „Da war keine andere Bewertung mehr zu treffen“, so der Einsatzleiter. „Es ist für uns auch schwer, das von außen einzuschätzen.“ Licht habe in allen drei Abteilen gebrannt, vielleicht in dem einen etwas dunkler. Aber er könne ja von außen nicht sehen, ob die Klimaanlage läuft oder nicht.
Von den Notrufanrufern habe Jüliger lediglich gewusst, dass es im Zug warm sei, nicht, in welchen Abteilen es keinen Strom und keine Klimaanlage geben würde. Vor Ort hätte er das nicht erkennen können. Ein sehr gereizter Mann habe den Feuerwehrleuten später allerdings lautstark Vorwürfe gemacht, weil in dem Abteil mit Strom mit der Evakuierung begonnen wurde: „Warum fangt ihr von vorne an, hier hinten ist doch das Problem.“ Jüliger habe dafür ein Stück weit Verständnis: „Ich kann denjenigen, der nur diese Wahrnehmung in seinem Abteil hat, sogar einigermaßen nachvollziehen.“
Die Verantwortung der Bahn
Doch hätte die Bahn nicht früher reagieren müssen? Auf diese Frage wollte Jüliger lieber nicht eingehen, weil das nicht in seiner Verantwortung liege. „Ich habe da meine Meinung zu, die ist aber ganz persönlich. Ich denke, die Dinge sprechen für sich. Wenn die Insassen des Zuges nach anderthalb Stunden den Notruf wählen, weil es ihnen nicht gut geht, dann sind wir gefordert.“ Die Bahn entschuldigte sich bei den Passagieren für die Unannehmlichkeiten, räumte aber in ihrer Stellungnahme gegenüber Merkurist keine Fehler ein.
Nachdem der allgemeine Ablauf besprochen worden war, gingen die Vertreter der Feuerwehr noch einmal genauer auf den Erfahrungsbericht der Mutter ein, die mit ihrem Kind in dem Zug feststeckte. Sie hatte unter anderem bemängelt, dass ihr beim Aufgang über die Treppe nicht geholfen worden sei und niemand sie angeleitet hätte. Jüliger sagt dazu: „Da hatten wir keine Kräfte für.“ Das Ziel der Feuerwehr sei gewesen, möglicherweise kollabierte oder verletzte Personen zu versorgen.
Die Mutter hatte gegenüber Merkurist angegeben, dass sie oben auf der Nottreppe zwei Feuerwehrleute hätte stehen und nach unten schauen sehen. Sie war empört darüber, dass diese den Passagieren auf der Treppe nicht halfen. Merkurist liegt ein Bild vor, auf dem Menschen in orangenen Westen zu sehen sind, die an dem Treppenzaun lehnen. Jüliger sagte, dazu „müssten Sie den Notfallmanager fragen. Das waren keine Angehörigen der Feuerwehr Mainz“.
Viele Ehrenamtliche im Einsatz
Wasser hätte man auch nicht mit herunter in den Tunnel bringen können, das würden die Einsatzfahrzeuge für 200 Menschen nicht hergeben. Jüliger habe aber „eine Sanitätseinheit alarmiert, die allerdings einige Zeit brauchen, bis sie da sind.“ Laut seinem Feuerwehrkollegen Stefan Behrendt war auch ein Johanniterfahrzeug mit sechs Kästen Sprudelwasser vor Ort.
Wie die Mutter, die mit ihrem Kind in dem Zug gefangen war, ebenfalls schilderte, sei sie oberhalb der Treppe auf einen Mitarbeiter der Johanniter getroffen, der ihr zunächst Sprudelwasser für ihren Sohn angeboten habe. Das habe sie abgelehnt, weil sie befürchtete, dass die Übelkeit bei ihrem Kind damit nur schlimmer werde. Einen süßen Eistee habe sie aus denselben Gründen ausgeschlagen. Dass sie beides abgelehnt habe, stoße bei Behrendt auf Unverständnis. „Dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein“, sagt er.
Die Mutter hatte gegenüber Merkurist außerdem moniert, dass ihr nicht erklärt worden sei, wo sie sich befand, und sich auch niemand darum gekümmert hätte, wie die Zuginsassen von diesem Ort wieder wegkommen. Dafür findet Jüliger deutliche Worte: „Der Transport von der Stelle weg ist keine Aufgabe der Feuerwehr. Da ist der Betreiber in der Pflicht, sich zu kümmern.“