Zurück in die Neustadt: Ein Mainz-Spaziergang mit Harald Martenstein

Heute lebt Harald Martenstein in Berlin und ist einer der bekanntesten Kolumnisten des Landes. Aufgewachsen ist er in der Mainzer Neustadt. Merkurist hat Martenstein zu den prägenden Orten seiner Kindheit und Jugend begleitet.

Zurück in die Neustadt: Ein Mainz-Spaziergang mit Harald Martenstein

Harald Martenstein (Jahrgang 1953) kam in Mainz zur Welt und wuchs in der Neustadt auf. Heute lebt er in Berlin und in der Uckermark. Er schreibt seit über 20 Jahren Kolumnen für die Wochenzeitung „Zeit“, früher auch für den Berliner Tagesspiegel – doch dann gab es Streit. Inzwischen schreibt er auch für die „Welt“ und tritt immer wieder als Kommentator des Zeitgeschehens im gleichnamigen TV-Sender auf.

Martenstein streitet leidenschaftlich und hat offenbar kein Problem damit, mit seinen liberalen Positionen anzuecken. Als Merkurist ihn Ende Juni 2025 zu einem Rundgang zurück zu den Orten seiner Kindheit und Jugend in Mainz trifft, ist er aber überhaupt nicht auf Streit aus, sondern höflich und interessiert. Schon am Vormittag um 10 Uhr ist es heiß auf dem Mainzer Bahnhofsvorplatz, hier haben wir uns verabredet. Martenstein sieht aus wie ein freundlicher älterer Herr, trägt Sonnenbrille und Umhängetasche. Kurz nach der Begrüßung sagt er: „Hier bin ich aufgewachsen. Das ist der Anfang.“

Kindheit zwischen Prostituierten und Dampfloks

In einem Hochhaus-Altbau direkt am Bahnhofsvorplatz wurde er in den 50er- und 60er-Jahren groß. Heute bezeichnet Martenstein das neue Gebäude, das statt dessen dort steht, als „hässliches Ding“, sagt aber auch: „Es war mal noch hässlicher, mit einer Außenfassade in Backstein-Optik.“ Wenn Martenstein in seiner Kindheit morgens zur Leibniz-Grundschule ging, sah er die Prostituierten im Bahnhofsviertel noch auf den Straßen stehen. Zu hören war das Geräusch der ein- und ausfahrenden Züge. Das Pfeifen der Dampflokomotiven prägte sich in sein Gedächtnis ein.

Martensteins Eltern ließen sich scheiden, als er noch ein Kind war. Während seine Mutter einen Geliebten hatte, war seinem Vater nichts dergleichen anzulasten. Vor Gericht bekommt die Mutter die Alleinschuld an der Scheidung – so war das damals noch. Das Verhältnis zu seiner Mutter war schwierig, vor einigen Jahren veröffentlichte Harald Martenstein darüber einen autobiografischen Roman mit dem Namen „Wut“.

Mainzer Neustadt nicht mehr „Klein-Kreuzberg“

Die Mainzer Neustadt nennt Martenstein seine Heimat. Als Kind besuchte er öfter die Bonifaziuskirche, nach der Leibniz-Grundschule ging er auf das Rabanus-Maurus-Gymnasium. Vor etwa zehn Jahren sagte er einmal, dass ihn die Neustadt ein bisschen an das Szeneviertel Berlin-Kreuzberg erinnere, ein Kleine-Leute-Viertel sei es in der Nachkriegszeit gewesen, ein Arbeiterviertel, das inzwischen von hippen Leuten bevölkert werde. Gentrifizierung geht meistens so: Erst ist da ein Arbeiterviertel, in dem die Mieten bezahlbar sind, weil dort meistens alles funktional und nicht besonders schön gehalten ist. Dann ziehen junge, aufstrebende Leute in das Viertel, eröffnen coole Läden und hippe Gastro-Geheimtipps. „Jetzt läuft die dritte Phase, wenn die Wohlhabenden kommen oder die Studenten von damals eine Anwaltskanzlei oder eine Arztpraxis eröffnet haben. Dann ändert sich alles nochmal ein bisschen. Jetzt geht es fast schon in Richtung Berlin-Charlottenburg“, sagt Martenstein über die Neustadt im Jahr 2025.

An der Leibnizschule wurde Martenstein im Jahr 1960 eingeschult. Als Sechsjähriger stand er mit Schultüte an der Mauer vor der Schule, als sein Einschulungsfoto gemacht wurde. Diese Mauer gibt es heute noch.

„Wir waren 40 Kinder in einer Klasse, das war alles bunt gemischt, Kinder aus der Honoratiorenschaft und Kinder aus Familien mit wenig Geld. Ich erinnere mich noch an einen seltsamen Jungen, der aus Wut immer seine Schultasche aus dem Fenster warf. Man muss Schneid haben, um das mit sechs Jahren zu machen.“

Schulzeit auf dem „RaMa“

Er selbst sei ein guter Schüler gewesen, erzählt Martenstein – anders als später auf dem Gymnasium. „Dort gab es Fächer, die haben mich interessiert, in denen war ich gut. Und es gab Fächer, die interessierten mich nicht und in denen war ich schlecht. Ich hatte aber schon den Ehrgeiz, das Abi zu machen.“ Zweimal sei er versetzungsgefährdet gewesen. „Mein Vater hat versucht, mit mir Latein zu üben, dabei hatte er selbst nur zwei Jahre Latein in der Schule gehabt. Er wusste noch weniger als ich. Das war sehr rührend von ihm.“ Am Ende schaffte Harald Martenstein das Abitur mit 2,4. „Das war damals ganz gut. Heute ist das eher das Ende der Karawane.“

Martenstein und Dieter Bohlen

Kurz nach dem Abitur trat Martenstein in die Kommunistische Partei Deutschlands ein – etwa zur selben Zeit wie „Pop-Titan“ Dieter Bohlen. Getroffen haben sich Martenstein und Bohlen in dieser kommunistischen Episode ihres Lebens aber nicht. „Wenn ich heute sagen könnte, ich war mit Dieter Bohlen auf dem DKP-Parteitag in Düsseldorf, das wäre wirklich eine gute Geschichte.“ Ob Bohlen wohl Martensteins Texte kennt? „Ja, das weiß ich sogar. Er hat mich mal angerufen“, antwortet Martenstein. „Ich hatte ihn in einer Kolumne erwähnt und nicht fertiggemacht, sondern anerkennende Worte gefunden. Da rief er mich an und sagte mir: ‘Es kommt so selten vor, dass mich in der Presse mal jemand nicht in den Boden stampfen will.’ Eigentlich traurig.“

Martensteins Großeltern

Nach der Trennung seiner Eltern verbrachte der Junge seine Nachmittage vor allem bei seiner Großmutter in der Mainzer Neustadt. Sie war jung Großmutter geworden, mit erst 39 Jahren. Sie wohnte in der Josefstraße, Ecke Leibnizstraße. Nach dem Mittagessen nahm ihn sein Großvater oft mit auf Tour in einem Fiat 500, später in einem Opel Kadett. „Er war Geldbote, holte bei Geschäftsleuten die Einnahmen ab und transportierte sie dann zur Bank.“

Vor dem ehemaligen Wohnhaus seiner Großeltern steht eine große Linde. Sie ist viel größer als die Bäume in der näheren Umgebung, „obwohl sie alle zur selben Zeit gepflanzt wurden“, sagt Martenstein. Und liefert gleich den Grund dafür mit: „Mein Großvater wollte zusätzlich etwas Geld verdienen und arbeitete als Hausmeister für diesen Häuserblock. Dazu gehörte auch die Pflege dieser kleinen Grünfläche. Er war es, der den Baum immer gegossen hat, daher ist er so prächtig gewachsen.“ Außer dem größer gewordenen Baum habe sich hier in all den Jahren „im Großen und Ganzen“ wenig verändert.

Auf dem Weg zu seinem Großeltern-Haus läuft man an einer ehemaligen Metzgerei vorbei. Heute ist dort, in der Leibnizstraße 34, ein asiatisches Restaurant untergebracht. „Jedes Mal, wenn wir hier vorbeiliefen, sagte meine Großmutter nur diesen einen Satz: ‘Der Metzger war schwul und ist von seinem Geliebtem umgebracht worden.’ Dabei wusste ich damals überhaupt nicht, was ‘schwul’ bedeutete. Ich habe sie aber auch nie danach gefragt“, erinnert sich Martenstein. In manchen Situationen würden Leute an einem bestimmten Ort immer das Gleiche sagen, hat Martenstein beobachtet. „Meine Frau ist auch so ein Mensch. Immer wenn Madonna singt oder irgendwo auftaucht, sagt sie: ‘Für ihr mittelmäßiges Talent hat Madonna aber verdammt viel aus sich gemacht.’“.

In der Wallaustraße habe er in den Ferien als Briefträger gejobbt. „Ich hatte das Gefühl: Als Briefträger habe ich einen wichtigen Job. Und die lassen dich das machen – einfach so.“ Damals gehörte es auch dazu, den Menschen ihre Rentenzahlungen zu überbringen. „Was ich irre fand: Wenn ich an der Tür klingelte und eine alte Frau, der ich 602 Mark Rente brachte, mir dann fünf Mark Trinkgeld gegeben hat“, so erinnert er sich. „Das bestätigt diese alte Kellnerweisheit, dass Leute mit bescheidenen Mitteln manchmal ein größeres Trinkgeld geben als Leute, die viel Geld haben.“

Was Harald Martenstein über den Nahost-Konflikt denkt

Nur ein wenig entfernt vom Haus seiner Großeltern befindet sich die Neue Mainzer Synagoge. Martenstein hat eine Weile in Israel gelebt. „Ich finde, dass Israel das Recht hat, sich selbst zu verteidigen“, sagt er zum aktuellen Konflikt. Die Feinde Israels wollten dieses Land auslöschen und würden am liebsten, wie die Nazis, alle Juden töten. Das solle man immer im Kopf haben, wenn man über den Krieg im Nahen Osten spricht. Israel führe „einen Überlebenskampf“, sagt er.

Die Mainzer Synagoge erinnere ihn im Stil an das Jüdische Museum in Berlin. „Es ist ein Blickfang, da hat man sich architektonisch etwas getraut.“ Martenstein mag, was er sieht: „Ich finde solche ausgeflippten Gebäude natürlich tausendmal besser als irgendwelche viereckigen Kästen.“ Kürzlich sei er in Rom gewesen, berichtet Martenstein. „Dort gibt es das Museum für Gegenwartskunst, das von Zaha Hadid gebaut wurde. Alle Ihre Häuser sehen so aus, als ob sie die sich im Drogenwahn ausgedacht hätte. Vielleicht war das auch so?“ Die Kunst im Museum sei weniger interessant: „Das Gebäude war die Attraktion. Die Leute fahren da hin, um sich dieses Haus anzugucken.“

Vor allem die Neustadt ist für Martenstein mit so vielen guten Erinnerungen verbunden, dass er schon überlegt hatte, wieder hierherzuziehen. „Back to the roots sozusagen.“ Er habe schon nach einer Zweitwohnung geschaut. „Aber die Wohnungen hier sind zu teuer, das ist nicht machbar. Außerdem gibt es praktisch kein Angebot. Dabei wäre ich ja sogar mit einem Zimmer zufrieden gewesen.“ Die Mainzer Altstadt hingegen sei ihm inzwischen zu „aufgeräumt“. „Wenn ich früher in die Mainzer Altstadt gegangen bin, dann hatte das so was Abenteuerliches. Sie war so unaufgeräumt und bröckelig, und jetzt wirkt alles total clean auf mich.“ Vor allem die Kneipenvielfalt vermisse er.

Als das Schwimmen im Rhein noch erlaubt war

Zu Martensteins Lieblingsorten gehört der Rhein. Besonders den Winterhafen möge er gerne. „Ich finde, dass der Rhein so einen ganz spezifischen Geruch hat, den man, wenn man ihn mal gerochen hat, immer wiedererkennt.“ Beschreiben könne er den Geruch zwar nicht, aber von anderen Flüssen genau unterscheiden. „Genauso haben ja auch die U-Bahn-Stationen in Paris, Madrid oder London ihren typischen Geruch“, so Martenstein.

Als Kind war er manchmal mit seinem Vater im Rhein schwimmen. Damals gab es ein Schiff, in dem ein Becken untergebracht war, gefüllt mit gefiltertem Rheinwasser. Wattrin hieß die Badeanstalt. „Es sollte wirklich wieder Möglichkeiten geben, am Rhein zu schwimmen“, findet Martenstein. Auch Gastronomieangebote fehlen ihm. „Man könnte viel mehr aus dieser Flusslage machen als nur diese Promenade.“

Unser Spaziergang mit Harald Martenstein endet am Rheinufer. Am Abend liest er aus seinen Kolumnen im Mainzer Dom vor vielen Zuhörern. Welche Texte er dann vorträgt? „Keine Ahnung, das muss ich mir jetzt noch überlegen“, sagt Martenstein wenige Stunden vor dem Auftritt. Er verabschiedet sich freundlich und geht in Richtung Altstadt.

Text und Interview: Sandra Werner und Peter Kroh

Fotos: Stephan Vogel