Sexarbeit in Mainz: So hilft „Selma“ Frauen in der Prostitution

Von Steuern über Stigmatisierung bis hin zum Umstieg: Die Mainzer Beratungsstelle „Selma“ unterstützt Sexarbeitende bei vielen Problemen – und kämpft dabei selbst mit zahlreichen Herausforderungen.

Sexarbeit in Mainz: So hilft „Selma“ Frauen in der Prostitution

Besuchern, die an der Heringsbrunnengasse 6 nach dem Eingang suchen, verrät erst das Klingelschild den richtigen Weg. Ein schwarz aufgemalter Pfeil zeigt links um die Ecke, auf die andere Seite des Gebäude-Komplexes. Durch die Fenster eines weißgetünchten Hauses, das eigentlich in der Rochusstraße liegt, ist dann der gesuchte Schriftzug zu erkennen: „Selma“. Es ist der Name der Mainzer Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution.

Die blauen Sofas am Fenster, die Kleiderecke mit gespendeten Dingen, der Besprechungstisch im hinteren Zimmer: All das ist am Mittwoch, an dem Merkurist die Beratungsstelle besucht, menschenleer. Nur Selma-Leiterin Zuhal Resne sitzt am Schreibtisch, der direkt links hinter der Eingangstür steht. Kein Wunder: Das „Offene Café mit Sprechstunde“, zu dem Frauen in der Prostitution auch ohne Termin kommen können, findet nämlich immer nur dienstags und donnerstags statt. Doch auch an diesen Tagen komme es selten vor, dass jemand vorbeischaue. „Das ist aktuell doch sehr gering“, sagt Resne.

Ergebnisoffene Beratung

Gegründet wurde die Beratungsstelle im Februar 2023 vom Verein Solwodi, der sich weltweit für Frauen in Not einsetzt (wir berichteten). Grundsätzlich vertritt der Verein die Meinung, dass es keine freiwillige und selbstbestimmte Sexarbeit gebe und daher möglichst alle Menschen in der Prostitution zum Umstieg in einen anderen Beruf ermutigt werden sollten. Trotz dieses Leitbilds trete Selma jedoch offen an alle Menschen in der Prostitution heran, versichert Resne. „Es ist kein exklusives Ausstiegsprojekt.“ Trotz des Zusatzes „für Frauen in der Prostitution“ sei Selma auch nicht nur für Frauen da. „Natürlich können sich jegliche Personen, die diese Dienstleistungen anbieten, an uns wenden“, so Resne. „Vielleicht, weil sie sich damit nicht mehr wohlfühlen, vielleicht aber auch, weil sie sich wohlfühlen und andere Fragen haben – wir sind da ergebnisoffen.“

Denn während die Unterstützung beim Umstieg ein wichtiger Teil der Arbeit sei, würden nicht alle die Prostitution verlassen wollen. „Ich hatte in meinem Leben schon Kontakt mit Frauen, die gesagt haben: ‘Ja, das ist mein Beruf, dazu stehe ich auch’“, erzählt Resne. „Das waren häufig Frauen mit einem deutschen staatlichen Hintergrund, die hier auch ansässig sind und eine Wohnung haben.“

Die meisten von Resnes Klientinnen würden jedoch aus Südosteuropa stammen, wie Rumänien oder Bulgarien. „Viele davon sind pragmatisch. Sie sagen, okay, das ist jetzt nicht der Traumjob, aber ich will damit einen gewissen Zweck erfüllen“ – etwa die Familie im Heimatland versorgen. Gerade dieser Gruppierung gehe es aber häufig nicht gut: Heimweh, andere psychische Belastungen und ein erschwerter Zugang zur Gesundheitsversorgung würden die Lebensqualität mindern. Außerdem sei es für sie oft schwierig, sich im deutschen Alltag und der Bürokratie zurechtzufinden.

Zwischen Bürokratie und Stigmatisierung

Mit am häufigsten sind laut der Selma-Leiterin deshalb Fragen zur gesundheitlichen Versorgung und Krankenversicherung. Auch bei Fragen zum Prostituiertenschutzgesetz, zu Steuern oder Schulden hilft das Team. „Die Einkünfte sind ja nun mal sehr flexibel in der Prostitution“, sagt Resne. „Für viele Krankenversicherungen ist es schwierig, sich darauf einzulassen – und dann wird sofort auf den Maximalbeitrag gegangen.“ Das könnten sich jedoch die wenigsten leisten. Auch beim Berechnen der Steuer seien schwankende Einkünfte und häufig fehlende Buchführung ein Problem. „Dabei würden viele Frauen davon profitieren, eine Steuererklärung zu machen.“ Denn der Pauschalbetrag, den angemeldete Sexarbeitende beim sogenannten Düsseldorfer Verfahren in der Regel ans Finanzamt zahlen, sei oftmals sogar zu hoch für die tatsächlichen Einnahmen.

Zusätzlich zur Bürokratie spiele Stigmatisierung eine große Rolle. Resne habe oft erlebt, dass ihre Klientinnen bei Terminen auf Ämtern, bei Banken oder Ärzten „als Mensch zweiter Klasse behandelt“ werden. Vor allem bei der Suche nach einem Steuerberater sei die Ablehnung groß. „Dann heißt es: ‘Mit der Szene, da geben wir uns lieber mal nicht ab’“, berichtet Resne. Die Vorbehalte seien spürbar, auch wenn sie nicht immer offen geäußert würden. In solchen Fällen könne Selma ebenfalls Hilfe anbieten und Klientinnen beispielsweise zu Terminen begleiten. „Wir kümmern uns eigentlich um alle möglichen Belange.“ Dazu gehöre auch die „ganz klassische psychosoziale Beratung, also zu Themen wie Familie oder der aktuellen Lebenssituation in Deutschland.“

(Digitales) Streetwork

Doch wenn so wenige den Weg in die Beratungsstelle finden: Wie kommt dann der Kontakt zu den Klientinnen zustande? In der Regel spiele sich die Arbeit außerhalb der Beratungsstelle ab, erklärt Resne. „Wir müssen uns einfach anpassen. Hier zu sitzen und zu hoffen, dass jemand kommt, unsere Kekse isst und mit uns Kaffee trinkt – ich glaube, da können wir lange warten.“ Beim „Streetwork“ besuchen die Selma-Mitarbeiterinnen deshalb beispielsweise Bordelle oder bekannte Terminwohnungen in Mainz. Im Gepäck haben sie dann kleine Mitbringsel, die sie verteilen: Kondome, Kosmetikartikel, oder auch Notizblöcke – ein Wunsch, der von den Sexarbeitenden selbst gekommen sei. Auf allem klebt ein Sticker mit dem Selma-Logo und einem QR-Code, über den die Beratungsstelle leicht erreichbar ist. „Das wird sehr gerne angenommen“, so Resne.

Ein weitaus größerer Teil der Arbeit finde inzwischen jedoch im digitalen Raum statt, vor allem seit der Corona-Pandemie. Weil während der Lockdowns viele Bordelle schließen mussten, habe sich die Prostitution zunehmend in Wohnungen und den digitalen Raum verlagert – nicht immer legal (wir berichteten). Für das kleine Team von Selma, das laut Resne aus „zweieinhalb“ Personen besteht, sei das eine Mammutaufgabe. Beim „digitalen Streetwork“ auf Online-Plattformen erfassen sie Inserate, Telefonnummern und Standorte, um Bewegungsmuster im Rhein-Main-Gebiet zu erkennen und Kontakt zu potenziellen Klientinnen aufzunehmen. Denn nur wenige Sexarbeitende seien ausschließlich an einem Ort tätig.

Was die Arbeit noch erschwere: Im Internet verschwimmen auf Dating-Apps oder Plattformen wie „OnlyFans“ oder „My Sugar Daddy“ die Grenzen zwischen klassischer Prostitution, privaten Beziehungen, Pornografie – und teils kriminellen Strukturen, von der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger bis hin zum Menschenhandel. „Das Private vermischt sich da mit der professionellen Szene, wenn zum Beispiel Partner ihre Frauen anbieten“, so Resne. „Wenn das im Konsens passiert, dann geht mich das natürlich nichts an, das muss jeder selbst wissen.“ Doch in Freierforen sei sie auch auf Fälle gestoßen, wo der Partner auf einmal doch ein Eintrittsgeld verlangt haben soll und die Frau alkoholisiert und nicht mehr ansprechbar gewesen sei. Dann sei es für die Mainzer Beratungsstelle Zeit, die Polizei einzuschalten. „Das sind so Bereiche, von denen wusste ich am Anfang gar nicht, dass es sie gibt. Ich bin da jedes Mal schockiert, wie viel tiefer es runtergehen kann.“

„Wie kann ich dieser Person heute helfen?“

Wo hört Prostitution auf und wo beginnt Ausbeutung? Wie können Ämter und Politik Sexarbeitenden am besten helfen? Die Komplexität des Themas Prostitution und die polarisierenden öffentlichen Debatten seien es gewesen, die Zuhal Resne während ihres Psychologiestudiums erstmals zu diesem Arbeitsfeld geführt hätten. Nach mehreren Jahren bei der Deutschen Aidshilfe in Trier übernahm sie 2024 die Leitung von Selma in Mainz. „Ich war immer der Meinung, dass man den Wert einer Gesellschaft daran bemessen kann, wie sie mit Personen umgeht, die unter den prekärsten Bedingungen arbeiten“, sagt sie. Die ergebnisoffene Beratung, die den Mensch und seine Wünsche in den Vordergrund stellt, sei Resne deshalb besonders wichtig.

„Ich als Beraterin nehme grundsätzlich das entgegen, was mir berichtet wird – darüber hinaus gebe ich kein Urteil ab“, sagt Resne. „Macht die Person das freiwillig oder nicht? Das ist erstmal nicht der größte Teil meiner Arbeit.“ Natürlich sei es wichtig, eventuelle Zwangslagen, Loverboy-Methoden oder verstrickte Familiengeflechte zu erkennen, in denen Familienangehörige ihre eigenen Töchter, Frauen oder Schwestern sexuell ausbeuten. Doch viel wichtiger sei es, sich richtig auf das Gegenüber einzulassen. „Die zentrale Frage meiner Arbeit ist: Wie kann ich dieser Person heute helfen, auch perspektivisch helfen für ihre Lebensplanung, für ihre Gesundheit, für alles Mögliche?“

Schuldenfalle Umstieg

Sollten sich Klientinnen für einen Umstieg entscheiden, sei der Wechsel in ein neues Berufsleben oft mit einem riesigen Schuldenberg verbunden – insbesondere bei Frauen aus dem Ausland und insbesondere dann, wenn sie nicht nach dem Prostituiertenschutzgesetz angemeldet und somit illegal in der Prostitution tätig waren. „Wenn man jahrelang keine Steuererklärung gemacht hat, kann man schon mal 20.000 bis 30.000 Euro an Steuerschulden ansetzen“, rechnet Resne vor. Hinzu kämen oft fünfstellige Nachzahlungen für die Krankenversicherung. Bis eine finanzielle Unterstützung vom Jobcenter bewilligt wird, ein Sprachkurs oder eine Weiterbildung beginnt, vergehe viel Zeit. Und da „Sexarbeiterin“ sich aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht gut im Lebenslauf lese, seien die ersten erreichbaren Jobs häufig im Niedriglohnsektor. „Das ist ein langer, beschwerlicher Weg.“

Bei diesen Problemen helfen könnten die Beratungsstellen nur bedingt. Um die Situation für Menschen in der Prostitution nachhaltig zu verbessern, ob beim Umstieg oder im Berufsalltag, brauche es nämlich vor allem eins: mehr Unterstützung aus der Politik. „Wir brauchen viel mehr Ausstattung in den Beratungsstellen, auch um die Arbeit im Digitalen zu unterstützen“, findet Resne. Gerade diese Arbeit könne dazu beitragen, konkrete Zahlen und Fakten zur Prostitution in Deutschland zu liefern, die bislang fehlen – und somit politische Entscheidungen begünstigen, die besser auf die Lebensrealität der Sexarbeitenden eingehen. „Bei uns in Mainz sehe ich es auch als unsere Aufgabe, da für einen realistischen Hintergrund zu sorgen und so viele Daten wie möglich zu sammeln.“

Politik aus dem „akademisierten Elfenbeinturm“

Dass die aktuelle Gesetzeslage teils an der Realität vorbeigeht und ihren eigentlichen Zweck nicht hinreichend erfüllt – nämlich die Sicherheit und Rechte von Sexarbeitenden zu schützen – hat auch die Evaluierung des Prostituiertenschutzgesetzes ergeben, die 2025 veröffentlicht wurde. Für Resne äußert sich die politische Realitätsferne aber auch in anderen Bereichen. „2020 gab es mal ein gefördertes Modellprojekt von der Bundesregierung, auf das sich die Beratungsstellen bewerben konnten“, erinnert sich Resne. Unter dem Titel „Modellprojekte zum Umstieg aus der Prostitution“ sollten verschiedene Möglichkeiten erprobt werden, wie Sexarbeitende bei ihrem Übergang in einen neuen Beruf besser unterstützt werden können.

„Für das Geld hätte man so viele Leute einstellen, so viel Infrastruktur schaffen können“, sagt Resne. „Aber was war die Voraussetzung? Beim Antrag musste man eine Schätzung abgeben, wie viele Frauen am Ende einen Ausbildungsberuf haben oder einen universitären Abschluss anstreben.“ Vor allem letzteres liege oft jenseits des Möglichen. „In der Beratung sitzen wir hier und überlegen, wie wir das überhaupt hinkriegen, dass eine Frau einen Sprachkurs wahrnehmen kann, der nicht parallel zu ihren Arbeitszeiten als Putzhilfe oder Spülkraft stattfindet. Ein universitärer Abschluss ist in so weiter Ferne und auch überhaupt nicht praktikabel und interessant für jede Person. Das war mal wieder eine Maßnahme, die deutlich aus einem akademisierten Elfenbeinturm kam.“