Peter Leissl erinnert sich: Als die Tour de France nach Wiesbaden kam

Für das ZDF begleitete und kommentierte Sportjournalist Peter Leissl jahrelang das bekannteste Radrennen der Welt: die Tour de France. Im Merkurist-Interview spricht Leissl über die Tour de France in Wiesbaden, Jan Ullrich und Doping im Radsport.

Peter Leissl erinnert sich: Als die Tour de France nach Wiesbaden kam

Seit den 80er-Jahren arbeitete der Wiesbadener Sportreporter Peter Leissl für das ZDF. Er berichtete von Olympischen- und Paralympischen Spielen, Leichtathletik-Wettkämpfen oder der Tour de France. Besonders das wohl bekannteste Radrennen der Welt hat es Leissl angetan. In den 2000er-Jahren berichtete er sogar als Live-Kommentator von der Tour. Seit dem Frühjahr 2024 ist der 66-Jährige im Ruhestand. Wobei Ruhestand relativ ist: Gerade erst vor wenigen Tagen fuhr der begeisterte Radfahrer bei der L'Étape du Tour eine Originaletappe der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt bei Nizza mit rund 13.000 Radsport-Begeisterten über 138 Kilometer. Mit Merkurist hat Peter Leissl über das Reporter-Leben in Frankreich, seine Faszination für den Radsport und einen Moment, den er bis heute bereut, gesprochen.

Merkurist: Herr Leissl, wie ist Ihre Begeisterung für den Radsport entstanden?

Peter Leissl: Ich habe als Kind und Heranwachsender schon gerne Sport im Fernsehen verfolgt – besonders Ausdauersportarten wie Leichtathletik, Ski-Langlauf oder eben Radsport. 1977 kam der „Blonde Engel“: Dietrich Thurau. Plötzlich war Radsport in Deutschland wieder bekannt, nachdem er vorher ein Sport für absolute Experten war. Drei Jahre später war ich 22 und die Tour de France machte Station in Wiesbaden. Ich erinnere mich noch, dass ich an einem Anstieg in Richtung HSK stand und mir die Halbetappe von dort aus angesehen habe. Schon Wochen zuvor hatte ich mir ausgeguckt, von welchem Punkt aus ich das Rennen am besten beobachten könnte.

Erinnern Sie sich noch an andere Berührungspunkte mit dem Radsport?

Ich stamme aus Taunusstein-Bleidenstadt, wo der alte Kurs des Radklassikers „Rund um den Henniger-Turm“ sozusagen an meinem Elternhaus vorbeiführte. Ich weiß noch genau, wie ich mit meinem völlig untauglichen Rennrad am Schmidtberg in Bad Schwalbach versuchte, vor dem Feld der Fahrer herzufahren. Ein Polizist verwies mich aber energisch auf die Seite – das Fahrerfeld war schließlich im Anmarsch.

Können Sie erklären, was den Mythos der Tour de France ausmacht?

Die Geschichte geht nun schon weit über 100 Jahre zurück und bietet so viele Anekdoten: Eugène Christophe schmiedete sich selbst eine Gabel in den Pyrenäen oder die Pélissier-Brüder kritisieren Anfang der 20er-Jahre, dass sie wie Sklaven bei Jahrmarktrennen gehalten wurden. Jeder meiner Kollegen, der mit mir in den Neunzigerjahren die Tour begleitet hat, sagte anschließend: Das ist das schönste Sportereignis, das man als Journalist begleiten kann. Es sind so viele Erlebnisse, fast jeden Tag ein neues Hotel, man erlebt Frankreich. Als studierter Geograph haben mich auch die Landschaft und die Kultur immer interessiert. Ich denke, diese Mischung aus forderndem Sport und französischer Kultur ist so einzigartig. Lediglich beim Essen bekam ich von den Radprofis oft zu hören, dass die Italienrundfahrt (Giro d’Italia) noch ein bisschen besser sei.

Warum das?

Ausdauersportler brauchen viele Kohlenhydrate. Da haben die Italiener mit Pasta und Co. eben einiges zu bieten.

Wie viel Zeit hatten Sie als Reporter, um Frankreich zu erleben? Schließlich waren Ihre Arbeitstage doch bestimmt sehr lang.

Ich musste lernen, mit meiner Zeit ökonomisch umzugehen. Im ersten Jahr bei der Tour hatte ich noch keine Live-Tätigkeit. Mein Job bestand darin, für eine Abendsendung eine Zusammenfassung der Etappe zu schneiden. Dafür musste ich mir die gesamte Etappe ansehen, die Stellen markieren, die interessant waren und daraus die Zusammenfassung machen. Dabei hatte ich den Ehrgeiz, besonders schöne Stücke zusammenzustellen. Um 21:30 Uhr musste die Zusammenfassung dann via Satellit nach Deutschland übertragen werden. Wenn ich danach völlig geschafft aus dem Schnittmobil kam, hatte sich die gesamte Technikzone vor Ort bereits entvölkert – niemand außer uns war mehr da.

Dann versuchten wir, um 21:30 Uhr in Frankreich noch etwas Warmes zu essen zu bekommen – das war nahezu unmöglich. Am Ende hatte ich eine Woche lang keine warme Speise bekommen und merkte, dass ich ziemlich launig wurde (lacht). Mit zunehmender Erfahrung hat sich das verbessert. Das lag aber auch daran, dass ich Live-Reporter wurde, weshalb ich früher Feierabend machen konnte. Dann ging es noch eine Stunde mit dem Auto in Richtung des nächsten Zielortes und um spätestens 20 Uhr saß ich mit meinem Kollegen Michael Pfeffer in einem Restaurant bei einem leckeren französischen Abendessen. Eine gute Flasche eines regionalen Weines gehörte auch dazu.

Ging das nicht irgendwann auf die Hüften?

Um dem vorzubeugen, habe ich am nächsten Morgen oft eine kleine Frühstückstour auf dem Fahrrad organisiert. Mit Kollegen fuhr ich dann etwa eineinhalb Stunden Rad, anschließend frühstückten wir noch etwas und dann fuhren wir die letzten 60 Kilometer der anstehenden Etappe mit dem Auto ab. Wenn wir an diesem Tag mit der Übertragung dran waren, visualisierten wir die letzten Kilometer ganz genau. Während der Live-Übertragung konnten wir dieses Wissen dann einfließen lassen.

Gibt es einen Tour-Moment, der Ihnen für immer in Erinnerung bleibt?

Als Jan Ullrich 2003 für das Team Bianchi fuhr und anfing, Serien-Sieger Lance Armstrong nochmal zu fordern. Wenn man das Thema Doping für einen Moment außen vorlässt, hatte man damals den Eindruck, Ullrich könnte Armstrong knacken. Es gab die bekannte Etappe in den Pyrenäen, als Armstrong sich an einem Beutel eines Zuschauers am Streckenrand aufhängte und stürzte. Ullrich war fair und wartete auf Armstrong. Der wiederum war nicht so fair und fuhr an Ullrich vorbei. Das war eine sehr spannende Tour.

Ebenfalls im Jahr 2003 erlebte ich eine schöne persönliche Begegnung. Bei der Übertragung der Schlussetappe aus Paris kam plötzlich Radsport-Legende Eddy Merckx von nebenan zu uns in die Kabine und gab uns ein Interview. Das war wunderbar.

Einer der Experten während Ihrer Zeit als Kommentator beim ZDF war der deutsche Ex-Radprofi Rolf Aldag. Erst nach seiner Zeit als Profi und Experte gestand er, gedopt zu haben. Wie haben Sie sein Geständnis aufgefasst?

Es gibt einen Moment, über den ärgere ich mich heute noch sehr. Vor der Tour de France 2006 wurde Jan Ullrich von der Tour ausgeschlossen, weil es Dopinganschuldigungen gegen ihn gab. Der Amerikaner Floyd Landis gewann diese Tour – er wurde später des Dopings überführt. An einem Tag war er völlig entkräftet eingebrochen, am Tag darauf fuhr er allein aus dem Peloton heraus, holte eine Ausreißergruppe ein, ging vorbei und fuhr einen großen Vorsprung heraus. Rolf Aldag sagte damals neben mir während der Übertragung: „Diese Niederlage gestern hat ihn in seinem Stolz verletzt.“ Da hätte ich mehr Fragezeichen setzen müssen, das ärgert mich. Landis‘ Leistung war nicht menschenmöglich. Nach 2006 musste man als Reporter mehr kritische Fragen stellen.

Bei jedem Erfolg fuhr ab dann der Verdacht mit, ein Fahrer könnte gedopt sein. Nicht selten bestätigte sich zu dieser Zeit der Verdacht früher oder später.

Ja, man musste als Reporter mehr Einschübe setzen. Dennoch musste man großartigen Leistungen auch Respekt zollen.

Glauben Sie, dass der Radsport heute sauber ist?

Ich glaube, es werden heute noch Dinge gemacht. Wahrscheinlich eher wissenschaftlich begleitet, nicht von den Regeln verboten. Die Teams gucken sich das sehr genau an. Alles ist verwissenschaftlicht worden. Das finde ich ein bisschen schade, denn so hat nicht mehr jedes Team die gleichen Möglichkeiten. Am Ende sind es die finanzstarken Mannschaften, die von diesem System profitieren.

Nachdem man wegen der Dopingvergehen Mitte der 2000er-Jahr die Tour nicht mehr live übertrug, zeigt die ARD inzwischen das Rennen wieder. Das ZDF nicht mehr. Bedauern Sie das?

Ich musste in den vergangenen Jahren sehr kämpfen, kleinere Beiträge für Sendungen wie das aktuelle Sportstudio machen zu dürfen. Man selbst sieht Etappen und denkt: Diese Etappe ist spannend, das ist der Hit! Viele Kollegen sind dem Radsport aber nicht mehr so verbunden. Bei der Tour 2020 gab es am vorletzten Tag ein Einzelzeitfahren, in dem Tadej Pogacar seinem slowenischen Landsmann Primoz Roglic das gelbe Trikot noch auf dramatische Art wegschnappte. Ich musste um einen zweieinhalbminütigen Beitrag stark kämpfen. Vor Ort war ich aber seit dem Ausstieg nur noch einmal: Beim Tour-Start 2017 in Düsseldorf. In den letzten Jahren war ich dann noch bei Rad-Weltmeisterschaften oder bei der Deutschland-Tour live vor Ort.

In den 90er-Jahren und frühen 2000ern sorgte Jan Ullrich dafür, dass viele deutsche sich für den Radsport interessierten. In den vergangenen Jahren sorgte er mit Skandalen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch für Aufsehen. Nun hat er reinen Tisch gemacht, Doping eingestanden. Glauben Sie, seine Abstürze hängen mit der schweren Bürde der Dopingvergangenheit zusammen?

Ja, das denke ich. Ich glaube, er ist im Prinzip ein ehrbarer Mensch, der darunter litt, dass er in diesem Geschäft lügen oder so formulieren musste, als ob er niemanden betrogen habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass er inzwischen offenbar die Kurve gekriegt hat. Man hat schon in den letzten Jahren immer wieder aus Amateurkreisen gehört, Ullrich sei ein ganz liebenswerter und ruhiger Typ bei Hobby-Ausfahrten. Jan Ullrich ist jemand, der als junger Mann in einen Löwenkäfig geworfen wurde. Das stelle ich mir sehr schwer vor. Er sagte selbst über sich, dass er dem Tod in den vergangenen Jahren nochmal von der Schippe gesprungen ist.

Man darf nicht vergessen: Ullrich war über Jahre ein Weltklasse-Radprofi, der von Konkurrenten und Teamkollegen respektiert wurde – obwohl er damals schon gelegentlich undiszipliniert war. Sein ehemaliger Mannschaftskamerad Rolf Aldag hat es mal so beschrieben: Wenn sich das Team Telekom früher zum dreitägigen Trainingslager nach einer langen Pause traf, dann kam Ullrich mit deutlichem Übergewicht an, prustete bei der ersten Trainingsfahrt und fuhr hinterher. Bei der zweiten Fahrt konnte er schon mit seinen Kollegen mithalten und bei der dritten fuhr er allen davon. Er war einfach talentierter als andere.

Vielen Dank für das Gespräch, Peter Leissl.