Kinder in Not: Situation in Wiesbaden wird immer kritischer

Obwohl es immer mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung gibt, gehen die Hilfen in Wiesbaden zurück: Die Bezirkssozialarbeit sucht dringend Mitarbeiter, die Probleme spitzen sich zu. Die Stadt ist kein Einzelfall.

Kinder in Not: Situation in Wiesbaden wird immer kritischer

Es fehlen Plätze, die Jugendämter stehen vor dem Kollaps, Notsituationen werden erst viel zu spät erkannt: Vielerorts droht eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen, da die zuständigen Mitarbeiter heillos überlastet sind. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich eine Umfrage von Report Mainz.

Das Team hatte bundesweit Hunderte von Jugendämtern zu ihrer aktuellen Situation befragt. Fast jedes vierte Amt teilte mit, dass es 2023 zu einer Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen gekommen sei. Das bedeutet: Kindern in Not konnte nicht rechtzeitig geholfen werden, weil die Jugendämter nicht mehr mit den Hausbesuchen hinterherkommen. 80 Prozent sagen, dass sie überlastet seien, und ein Viertel beklagt zu wenige Plätze in Einrichtungen für Kinder.

„Komplexe Problemlagen“ werden häufiger

Auch in Wiesbaden wird die Situation zunehmend kritisch. Das zeigt eine Merkurist-Anfrage an das Dezernat für Soziales, Bildung und Wohnen. In der Bezirkssozialarbeit seien 13 Prozent der Stellen unbesetzt, hinzu kommen Ausfallzeiten wegen Erkrankungen. Acht regionale Arbeitsgruppen an vier Standorten unterhält die Wiesbadener Bezirkssozialarbeit, hinzu kommt eine Gruppe, die sich um Kinder und Familien in Not- und Gemeinschaftsunterkünften kümmert. Insgesamt arbeiten derzeit 90 Mitarbeiter in dem Bereich.

Immer häufiger würden „sehr komplexe Problemlagen“ eintreten, erklärt Stadträtin Dr. Patricia Becher gegenüber Merkurist. Besonders heikel sei die Situation derzeit für Kinder in Not. Die Suche nach einem Platz in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche sei sehr aufwändig geworden. „Häufig muss bundesweit gesucht werden“, erklärt die Stadträtin. Teilweise würden die jungen Menschen nur befristet aufgenommen und müssten den Platz nach einer Weile noch einmal wechseln.

Auch gebe es immer weniger Familien, die bereit seien, einem Kind, das Unterstützung benötigt, ein Zuhause zu geben – es also als Pflegekind aufzunehmen. „Das Schul- und das Gesundheitssystem sind ebenfalls sehr stark gefordert und teilweise überlastet“, so Becher weiter.

Meldungen von Kindeswohlgefährdung verdoppelt

Gleichzeitig haben sich die Meldungen von Kindeswohlgefährdungen im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Es sind also viel mehr Kinder dringend auf Hilfe angewiesen. Oberste Priorität habe daher immer die „Sicherstellung des Kinderschutzes“, erklärt Becher. Sobald den Mitarbeitern eine problematische Familiensituation oder eine mögliche Kindeswohlgefährdung bekannt werde, würde der Kinderschutz „in jedem Fall sichergestellt“.

Darüber hinaus versuchen die Mitarbeiter, präventive und ergänzende Maßnahmen anzubieten. Sie arbeiten dafür mit Stellen zur Erziehungsberatung, Elternbildung und Frühen Hilfe zusammen, ebenso mit der Abteilung Sozialdienst und den in Wiesbaden ansässigen Jugendhilfeträgern. „Das Ziel besteht darin, so vielen jungen Menschen wie möglich eine Unterbringung in Wiesbaden zu ermöglichen, wenn sie aus verschiedensten Gründen nicht mehr im elterlichen Haushalt leben können“, erklärt Becher.

Fachkräftemangel und zusätzliche Arbeitsbelastungen

Das Arbeitsgebiet sei sehr belastend. „Das gesamtgesellschaftliche Klima und die Themen, die uns alle beschäftigen und belasten, wirken sich hier unmittelbar aus.“ Viele Familien würden immer noch mit den Folgen der Corona-Pandemie kämpfen, mit der hohen Inflation und wirtschaftlich unsicheren Situation. In der Bezirkssozialarbeit herrsche Fachkräftemangel und eine hohe Fluktuation. Zudem seien viele Berufseinsteiger noch unerfahren. Gleichzeitig sehe sich das Amt mit neuen Arbeitsbelastungen konfrontiert, etwa durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sowie weitere Aufgaben, die auf die Kinder- und Jugendhilfe zukomme. „Das kostet zusätzliche Ressourcen“, sagt Becher.

Zwar sei der Trend schon seit Jahren zu beobachten, doch seit Ende der Corona-Pandemie habe sich die Problematik weiter verschärft. Und das nicht nur in Wiesbaden: „Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beziffert aktuell bundesweit 19.000 fehlende Sozialarbeiter:innen“, so Becher.

Die Stadträtin wünscht sich daher, dass angesichts der zunehmenden Gesetze von Bund und Ländern und dem inzwischen hohen Ressourcenaufwand eine „auskömmliche Finanzierung“ sichergestellt werde. „Kinderschutz und Jugendhilfe sind auf Dauer nur mit einer angemessenen Personalausstattung, die sich nach aktuell wissenschaftlichen Standards richtet, operativ haltbar“, so Becher. Mithilfe von Fortbildungen und Nachqualifizierungen könne versucht werden, den Fachkräftemangel zu kompensieren. Und das nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe. Genauso wichtig sei es nämlich auch, die „angrenzenden Systeme“, wie Becher sie nennt – also Gesundheit und Bildung – „auskömmlich auszustatten“.