Ärger um die neue Fußgängerzone in Ingelheim

Freude und Empörung, so kann man die Emotionen etlicher Ingelheimer beschreiben, wenn es um die neue, erweiterte Fußgängerzone geht. Welche Vorteile hat die Erweiterung und was wird daran kritisiert?

Ärger um die neue Fußgängerzone in Ingelheim

Bummeln, flanieren, stöbern, einkaufen: So stellen sich viele den Besuch einer Innenstadt vor – auch in Ingelheim. Doch braucht es dafür eine Fußgängerzone? Eine Frage, die in der Rotweinstadt auf verschiedene Gemüter trifft. Dort wurde vor fünf Wochen die Fußgängerzone in der Stadtmitte erweitert. Wir haben bei Passanten, Geschäften, Praxen und der Stadtverwaltung nachgehört: Wie wird die Erweiterung bewertet?

Eröffnet ist die erweiterte Fußgängerzone bereits seit dem 13. Mai. Sie umfasst die südliche Bahnhofsstraße von der Binger Straße bis zum Lavendel-Kreisel sowie die Binger Straße zwischen Friedrich-Ebert-Straße und der Kreuzung Konrad-Adenauer-Straße. Nur noch Fahrräder, Anlieger, Anwohner und der Lieferverkehr dürfen seitdem dort unterwegs sein, letzterer auch nur montags bis samstags von 6 bis 10 Uhr. Damit ergänzt die Erweiterung die bestehende Zone zwischen Bahnhof, Sebastian-Münster-Platz und Georg-Rückert-Straße.

Mehr Aufenthaltsqualität?

Die Stadt erhofft sich, mit der Erweiterung die Aufenthaltsqualität zu stärken, „zum Wohle der einkaufenden und flanierenden Menschen“, wie Oberbürgermeister Ralf Claus (SPD) in einer städtischen Pressemitteilung zitiert wird. Auch abseits des Gewerbes biete die Fußgängerzone Aufenthaltsqualität, sagt ein Sprecher der Stadt auf Anfrage von Merkurist – beispielsweise „durch Brunnen, Bänke und Bäume, mehr Ruhe und weniger Luftverschmutzung“.

Fragt man die Ingelheimer, finden einige, dass es wegen der fehlenden Autos zudem sicherer in der Fußgängerzone geworden sei. Ebenso haben die Gastronomen draußen nun mehr Platz für Tische. Ausreichend Parkplätze gibt es weiterhin nahe der Fußgängerzone.

Ist die Erweiterung „Schwachsinn“?

In Gesprächen mit ansässigen Geschäfts- und Praxisinhabern üben manche Lob, aber insbesondere betroffene Inhaber aus der Bahnhofsstraße bewerten die Erweiterung gegenüber Merkurist kritisch. Als „Schwachsinn“ beschreibt es jemand etwa, da es in der südlichen Bahnhofsstraße an Ankermietern, Gastronomie und Geschäften fehle, die Kunden anziehen würden. „In welche Geschäfte soll man da zu Fuß hin? Da gibt es keinen Mehrwert!“ sagt ein anderer. Die Auswahl an Geschäften und Gastronomen würde nicht dazu beitragen, dass man von der Bestandszone weiter in die südliche Bahnhofsstraße flanieren würde. Hingegen seien die Kunden es gewohnt, bis an den Laden vorfahren zu können. In der südlichen Bahnhofsstraße gibt es zumeist inhabergeführte Geschäfte, darunter beispielsweise Optiker, Boutiquen, einen Floristen, mehrere Praxen und Gastronomien.

Die Stadtverwaltung entgegnet auf Merkurist-Anfrage den Vorwürfen. Ihrer Auffassung nach biete die Neue Mitte und das unmittelbare Umfeld „durchaus attraktiven Einzelhandel und gastronomische Angebote“, sagt ein Sprecher. Die inhabergeführten Geschäfte hätten eine hohe Attraktivität für die Besucher der Innenstadt.

Keine Stellplätze mehr?

Manche betroffenen Geschäfts- und Praxisinhaber bemängeln, dass die „Stellplätze vor der Tür“ weggefallen seien. Insbesondere für gehbehinderte Menschen sei es ein Problem, wenn die Wege zur Praxis länger sind, ebenso wie für Kunden, die es gewohnt sind vorzufahren, um größere Mengen einzukaufen. Wie die Stadtverwaltung jedoch erklärt, seien im Bereich der neuen Fußgängerzone „nur wenige Stellplätze weggefallen“. Dafür entstanden in der angrenzenden Friedrich-Ebert-Straße Kurzzeitparkplätze, wo man für maximal 30 Minuten parken darf, heißt es. Aus Sicht der Verwaltung gebe es mit den Parkhäusern und -plätzen in und um die „Neue Mitte“ für Autofahrer „netto keine Verschlechterung, was die Parkraumsituation betrifft“.

Weil die Verkehrsführung geändert wurde, komme es aber vor, dass Auto- und Radfahrer die Verkehrsführung teilweise missachten – dies sei zum Teil der neuen Situation und alten (Fahr-)Gewohnheiten geschuldet, vermutet die Stadtverwaltung und hofft mittelfristig auf die Gewöhnung. Die Polizei sei gebeten worden, Kontrollen durchzuführen. Das städtische Ordnungsamt kontrolliere ebenso und spreche für Falschparker ein Verwarngeld von 55 Euro aus. Die Schüler des im Zentrum gelegenen Sebastian-Münster-Gymnasiums seien zudem von der Schulleitung informiert worden, in der Fußgängerzone nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren zu dürfen.

Wurden die Betroffenen nicht gehört?

Teilweise werfen die Anlieger der Stadtverwaltung vor, nicht ausreichend die Bedenken und Anregungen der Betroffenen zu hören. Beispielsweise sagt ein Inhaber gegenüber Merkurist: „Wir können nichts mehr dran ändern. Das ist beschlossene Sache.“ Die betroffenen Anwohner, Geschäftstreibenden und Anlieger seien jedoch bei zwei Veranstaltungen (Planungswerkstätten) mit einbezogen worden, teilt die Stadt mit. Auch seien sie persönlich angeschrieben und kurz vor der Einführung zu einer Informationsveranstaltung eingeladen worden. Außerdem habe es ein förmlichen Verfahren gegeben, die Planunterlagen hätten zur Einsicht und zum Widersprucheinreichen offengelegen.

Die Behörde bekräftigte auf Anfrage, dass sie die Anregungen, die sie erreichen, ernst nehme, und diese Teil des weiteren Prozesses seien. So werde nach etwa einem Jahr Bilanz gezogen, gegebenenfalls sollen Anpassungen vorgenommen werden. Zum Beispiel könnte das Zeitfenster für den Lieferverkehr geändert werden. Darüber hinaus werde ein externes Fachbüro die Entwicklung „neutral über Befragungen und Zählungen begleiten, um valide Daten für die weiteren Entscheidungen zur Verfügung zu stellen“, teilt der Sprecher mit. Die städtische Wirtschaftsförderung stehe außerdem im Austausch mit den Gewerbetreibenden und dem Gewerbeverein und biete ein Förderprogramm für Kleinstunternehmen an.

Hintergrund

Die Idee, die Fußgängerzone zu erweitern, stammt aus dem Rahmenplan für die Stadtmitte, den der Stadtrat 2010 verabschiedet hatte. Mit der Umsetzung wurde gewartet, bis die großen Baumaßnahmen in der Innenstadt abgeschlossen waren. 2019 beschloss der Stadtrat die Erweiterung. Der Planungsausschuss fasste den Grundsatzbeschluss 2021, nachdem es zwei Beteiligungsveranstaltungen gab.

Logo