Zeitreise ins Mainz der 50er und 60er

Mit seinem Berlin-Roman „Arbeit“ erntete der Autor Thorsten Nagelschmidt begeisterte Kritiken. In seinem neuen Buch „Soledad“ wollte er die Handlung nun an ungewöhnlichere Orte verlegen – unter anderem ins Mainz der Nachkriegszeit.

Zeitreise ins Mainz der 50er und 60er

Eine junge Fotografin aus Hamburg, ein abgelegenes Feriendomizil in Kolumbien und ein Junge, der im Mainz der 50er- und 60er-Jahre aufwächst: Im neuen Roman „Soledad“ von Thorsten Nagelschmidt treffen verschiedene Welten und Zeitebenen aufeinander. In Mainz startet am Sonntag (13. Oktober) passenderweise auch die Lesetour. Im Merkurist-Gespräch verrät der Autor schon vorab, was ihn zu dem Buch inspiriert hat – und warum Mainz darin eine so große Rolle spielt.

„Unbekannte Gefilde“

In „Soledad“ begegnen sich zwei Figuren, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten: Alena, eine junge Fotografin mit russischen Wurzeln, die auf der gemeinsamen Südamerika-Reise von ihrer Partnerin verlassen wurde und ihre Gefühle mit Tabletten betäubt – und Rainer, den es nach seiner Kindheit im Mainz der Nachkriegszeit immer weiter in die Welt hinauszieht, bis er sich schließlich mit seiner halb so alten Frau und seiner Tochter im kolumbianischen Soledad niederlässt.

„Die beiden prallen erstmal ein bisschen aufeinander“, erklärt Nagelschmidt. „Wir erfahren das besonders durch Alenas Blick, wie merkwürdig sie diesen fast 70-jährigen Mann erstmal findet.“ Nach und nach stellt sich jedoch heraus, dass es zwischen den beiden mehr Verbindendes als Trennendes gibt. „Wo ich die große Behauptung machen würde, dass das eigentlich für uns alle gilt.“ Dieser Aspekt verbinde „Soledad“ auch mit seinen vorherigen Büchern. „Mich interessiert sehr, warum Menschen handeln, wie sie handeln, warum sie denken, wie sie denken, was sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Wir alle haben eine Prägung, die wir mitbringen und die wir auch wahrscheinlich nie ganz abschütteln werden können.“

Die Handlungsorte seines neuen Romans unterscheiden sich jedoch deutlich von den Vorgängern. „In meinem letzten Roman ‘Arbeit’ habe ich mich so sehr an Berlin abgearbeitet, wo ich auch lebe. In ‘Der Abfall der Herzen’ habe ich mich wahnsinnig intensiv mit meiner Heimatstadt Rheine beschäftigt“, sagt Nagelschmidt. „Jetzt hatte ich große Freude daran, mich in Gefilde zu begeben, die ich noch nicht so gut kenne.“ Den Ort Soledad habe er ausgewählt, weil er 2018 selbst an einem ähnlichen Ort in Kolumbien gelandet sei. „Der ist irgendwie an mir haften geblieben.“

Verbundenheit mit Mainz und Wiesbaden

Wie er aber ausgerechnet auf Mainz gekommen sei, darauf weiß der Autor nicht sofort eine Antwort. Er habe nie in Mainz gelebt, auch seine Familie stamme nicht aus dieser Region. „Ich kann selbst nur vermuten, was mich dazu getrieben hat.“ Viel mehr verbinde ihn eigentlich mit der Nachbarstadt Wiesbaden. Wenn Nagelschmidt nicht gerade aus seinen Büchern liest, tourt er nämlich mit seiner Band „Muff Potter“ durch Deutschland. Ob mit der Band oder solo: Die mit Abstand meisten Auftritte habe er im Wiesbadener Schlachthof absolviert. „Der Schlachthof ist fast schon eine zweite Heimat für mich.“

Zu Mainz fallen dem Autor aber auch einige Anekdoten ein: seine Lesung im „Capitol“ im Herbst 2023, die zugleich die letzte Veranstaltung des Programmkinos vor der vorübergehenden Schließung gewesen sei; der Mainzer „Ventil Verlag“, der 2007 sein erstes Buch „Wo die wilden Maden graben“ veröffentlichte; der inzwischen verstorbene „Ventil“-Verleger und Journalist Martin Büsser, der Nagelschmidt nicht nur bei einem Mainz-Besuch die rheinhessische Weinkultur nähergebracht, sondern ihn auch schon zu Jugendzeiten mit seinen Artikeln über ungewöhnliche Musikgenres fasziniert habe. „Wenn man dieses Nähkästchen einmal öffnet, merke ich doch, dass ich nicht ganz zufällig auf Mainz gestoßen bin“, überlegt Nagelschmidt. „Vielleicht waren es Gründe, die mir selbst gar nicht so bewusst waren.“

Mainz-Fakten von Blendax bis Besatzung

Rheinhessischer Dialekt, französische Besatzung und alte Mainzer Firmen wie Erdal und Blendax: Um das Mainz der 50er- und 60er-Jahre so lebensecht wie möglich darzustellen, habe Nagelschmidt „viel recherchiert und wahnsinnig viel gelesen“. Insgesamt vier Jahre lang habe er an „Soledad“ gearbeitet und sei mehrfach nach Mainz gefahren.

Bei den geschichtlichen Hintergründen habe der Mainzer Historiker Hans Berkessel vom „Haus des Erinnerns“ ihn unterstützt. Ingmar Weber vom S. Fischer Verlag, der ebenfalls aus Mainz stammt, habe die Mainz-Passagen anschließend lektoriert. „Gerade bei den Details ist mir immer wichtig, dass die stimmen. Darin kann ich mich manchmal auch verzetteln“, verrät Nagelschmidt. „Viel schwieriger ist es jedoch, die passende Stimmung für eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Milieu herzustellen, die einen beim Lesen auch mitnimmt.“

Thomas Nagelschmidt liest im Salon 3sein

Dass die erste Lesung seiner Buchtour am Sonntag (13. Oktober) ausgerechnet in Mainz stattfindet, mache ihn deshalb besonders nervös. „Ich beginne direkt in der Höhle des Löwen“, lacht er, „und ich bin mir sicher, dass irgendwer noch irgendwelche Kleinigkeiten finden wird, die falsch sind.“ Grundsätzlich seien die Erstauflagen von Romanen nie fehlerfrei. „Aber ich freue mich wahnsinnig auf Sonntag. Mainz ist ein sehr schöner Ort. Ich habe tolle Auftritte dort gehabt und bin immer sehr gerne dort.“

Die Lesung findet am Sonntag um 20 Uhr im Salon 3sein des Kulturclubs Schon Schön statt. Organisiert wird sie vom Mainzer Literaturbüro, dessen Projektleiter Ingo Rüdiger auch beim Mainzer Ventil Verlag arbeitet – was Nagelschmidt besonders freue. „Es ist nach wie vor eine große Verbundenheit da, auch wenn ich schon lange nicht mehr dort veröffentliche.“ Die Gelegenheit seines anstehenden Mainz-Besuchs wolle Nagelschmidt auch nutzen, um seiner alten Bekanntschaft aus dem Verlag zu gedenken. „Ich werde mir auf jeden Fall die neue Martin-Büsser-Straße anschauen.“

Weitere Informationen zur Lesung am Sonntag und Tickets gibt es hier. Alle Infos zum Buch „Soledad“ findet ihr auf der Homepage von Thorsten Nagelschmidt oder auf der Website des S. Fischer Verlags.