Fast könnte man daran vorbeilaufen, so unscheinbar ist der Eingang in der Kappelhofgasse. Nur ein kleines Schild links neben der Tür weist darauf hin, dass es sich nicht um einen normalen Hauseingang handelt, nachts leuchtet zusätzlich eine Anzeigetafel: „Babyklappe“.
Wie funktioniert die Babyklappe?
Seit 2002 gibt es die Babyklappe am Rand der Mainzer Fußgängerzone, nur wenige Schritte von der Augustinerstraße entfernt. In der Anfangszeit wurde sie noch „Babyfenster“ genannt. „Das haben wir aber schließlich geändert, weil das Wort nicht so eindeutig war“, erzählt Waltraud Meuser vom Sozialdienst katholischer Frauen e.V. (SKF) in Mainz. „Man könnte sich darunter auch einen Laden für Babybedarf vorstellen.“ Hinter der Eingangstür verbirgt sich jedoch kein Geschäft, sondern ein winziger Raum mit einem Gitterbett. Direkt daneben an der Wand ist ein ausklappbarer Sitz montiert – „damit die Mutter sich die Zeit nehmen kann, die sie braucht, um sich von ihrem Kind zu verabschieden.“
Meuser ist Kunsttherapeutin, Sexualpädagogin und Schwangerschaftsberaterin. Seit 31 Jahren ist sie beim SKF Mainz. Immer wenn tatsächlich ein Baby in der Babyklappe abgegeben wird, sorgt die 59-Jährige dafür, dass alles richtig läuft und die nötigen Stellen informiert werden. „Dann sind alle immer ganz aufgeregt“, erzählt sie. Integriert ist die Babyklappe nämlich in das Gebäude des Seniorenzentrums Bruder-Konrad-Stift. Für die Mainzer Marienschwestern, die das Zentrum leiten, stehe der Umgang mit Neugeborenen normalerweise nicht auf der Tagesordnung.
Mit dem Baby alleine seien die Schwestern aber nur wenige Minuten. Sobald eine Person ein Kind in der Babyklappe ablegt und den Raum anschließend verlässt, wird ein Sicherheitsmechanismus ausgelöst: Die Außentür zur Babyklappe schließt komplett, sodass der Raum nur noch vom Inneren des Gebäudes zugänglich ist. Zeitgleich geht im Bruder-Konrad-Stift ein Alarm ein. „Das funktioniert ohne Kameras oder Gucklöcher“, sagt Meuser. „Die Abgabe ist komplett anonym.“
Angebot für Frauen in Not
Das erste, was die Marienschwestern tun, wenn ein Kind der Babyklappe liegt: den Rettungsdienst rufen. Waltraud Meuser koordiniert dann den weiteren Ablauf, der Kindernotdienst, das Krankenhaus und das Jugendamt werden informiert. Nach der Erstversorgung im Krankenhaus nimmt das Jugendamt das Kind in Obhut und vermittelt es schließlich an eine Adoptivfamilie. „Das Kind ist nicht viel länger im Krankenhaus als bei einer regulären Geburt“, sagt Meuser. Auch bis zur Aufnahme in eine Adoptivfamilie würden meist nur wenige Tage vergehen. „Die Nachfrage nach Adoptivkindern ist sehr groß.“ Um all das kümmere sich jedoch das Jugendamt. Meuser selbst habe keinen Kontakt zu den Kindern aus der Babyklappe. „Das Jugendamt ist der Anwalt des Kindes, und der SKF ist der Anwalt der Frau.“
Der Sozialdienst katholischer Frauen war es auch, der die Mainzer Babyklappe ins Leben rief. Mit der „Aktion Moses“ wollte der SKF schwangeren Frauen in Not mehrere Möglichkeiten geben, Hilfe zu bekommen: über eine Notrufnummer, bei der die Frauen sich kostenlos beraten lassen können, oder auch mit einer anonymen Entbindung unter medizinischer Aufsicht. „Ein letzter Ausweg für Frauen in höchster Not: Für Frauen in einer extremen Notsituation, die keinen Weg sehen, ihr Baby selbst aufzuziehen oder es namentlich zur Adoption freizugeben, gibt es das Angebot der Babyklappe“, heißt es auf der SKF-Website – ein letzter Ausweg, der seit Jahren heiß diskutiert wird.
Gesellschaftliche Debatte um Babyklappen
Klar ist: Eine Mutter, die ihr Kind in einer Babyklappe abgibt, macht sich nicht strafbar – denn sie hat das Baby rechtlich gesehen nicht ausgesetzt, sondern in die Obhut der Organisation übergeben, die die Babyklappe betreibt. Gegner kritisieren jedoch, dass es keinen Beweis dafür gebe, dass Babyklappen tatsächlich das Aussetzen oder gar Töten von Neugeborenen verhindern würden. Außerdem hätte die anonyme Abgabe lebenslange Auswirkungen auf die Psyche der Kinder, Mütter und auch Väter.
2009 rief der Deutsche Ethikrat deshalb dazu auf, alle existierenden Babyklappen in Deutschland zu schließen. Selbst der Sozialdienst katholischer Frauen in Deutschland habe seinen Ortsvereinen 2016 empfohlen, das Angebot der Babyklappen einzustellen. Wie kommt es also, dass die Mainzer Babyklappe weiterhin existiert?
„Stellen Sie sich vor, niemand ist da“
„Wir als SKF Mainz haben uns bewusst dagegen entschieden, die Babyklappe zu schließen“, sagt Meuser. Auch sie selbst sei der Meinung, dass Babyklappen das Aussetzen und Töten von Kindern nicht verhindern könnten. „Das sind psychische Ausnahmesituationen, in denen sich diese Menschen befinden. Das retten auch die Babyklappen nicht.“ Eine bereits existierende Babyklappe zu schließen, würde das Problem jedoch noch verschlimmern. „Die Information, dass es in Mainz eine Babyklappe gibt, kann man nicht mehr löschen. Stellen Sie sich vor, es kommt jemand her und niemand ist da.“
Tatsächlich sei es gar nicht so lange her, dass ein Kind in der Babyklappe gelegen habe: Im Januar 2024 sei Meuser zuletzt zum Bruder-Konrad-Stift gerufen worden, weil dort ein Neugeborenes abgegeben wurde. Es war das zehnte Kind seit der Errichtung der Babyklappe im November 2002. Zum Vergleich: In Hamburg wurden zwischen 2000 und 2020 insgesamt 56 Neugeborene in Babyklappen gelegt. In Berlin waren es 42 allein in den Jahren 2014 bis 2021. „Im Vergleich dazu ist Mainz ein Dorf“, sagt Meuser. „Die Babyklappe wird hier weniger genutzt, das liegt in der Natur der Sache.“
Zwei von zehn Kindern zurückgeholt
Dennoch habe es auch in Mainz besondere Fälle gegeben. So seien zwei der zehn Kinder, die in der Babyklappe abgegeben wurden, kurz darauf wieder von ihren biologischen Müttern zurückgeholt worden. „Grundsätzlich kann eine Mutter, die ihre Entscheidung bereut, sich bis zur Adoption des Kindes bei uns melden“, erklärt Meuser. Ihre Erfahrung zeige jedoch, dass es bereits nach 14 Tagen schwieriger werde, das Kind an die biologische Mutter zurückzugeben. „Die Frau kann sich aber immer zurückmelden und erfahren, wie es dem Kind geht.“
In einem anderen Fall habe eine Frau vorab beim Bruder-Konrad-Stift angerufen und sich zur Babyklappe erkundigen wollen. „Da hat die Kollegin am Telefon wunderbar reagiert und sie davon überzeugt, sich an unsere Notfallberatung beim SKF Mainz zu wenden“, sagt Meuser. Letztlich habe sich die Frau für eine anonyme Entbindung unter medizinischer Betreuung entschieden, den Vorläufer der seit 2014 bundesweit geregelten vertraulichen Geburt. „Ansonsten hätte sie ihr Kind vermutlich heimlich zu Hause entbunden, um anonym bleiben zu können“ – aus Meusers Sicht die deutlich gefährlichere Variante. „Wenn keiner da ist, der das Kind medizinisch versorgt, kann so ein Mäuschen auch mal ums Leben kommen.“ Auch für die Mutter steige das Risiko.
Beratungsstelle für Schwangere
Wer sich für eine vertrauliche Geburt oder sogar die Babyklappe entscheide, sei in der Regel in einer extremen Notsituation. „Die Frauen fühlen sich bedroht. Das sind große Ängste, die sich die meisten Menschen gar nicht vorstellen können.“ Allen Schwangeren, die Angst vor Gewalt, Existenzbedrohung oder anderen Konsequenzen haben, rät Meuser deshalb, sich zuerst an eine Beratungsstelle wie den SKF zu wenden. „Wir sind in der Entscheidung die neutrale Stelle. Ich bewerte da nichts, ich frage nicht nach.“
Ihre Aufgabe bestehe darin, die Frau so gut wie möglich zu beraten – unabhängig davon, ob sie sich im Anschluss für eine vertrauliche Geburt entscheidet oder das Kind behalten möchte. „Es gibt so viele Informationen, so viele Hilfsangebote. Das muss man alles wissen, um eine gute Entscheidung zu treffen“, sagt Meuser. Über Abtreibungen dürfe sie als Mitarbeiterin der katholischen Kirche allerdings nicht beraten. „Aber ich kann das nicht entscheiden. Es muss immer eine Herzensentscheidung der Frau bleiben.“
Weitere Informationen zur Schwangerschaftsberatung und der vertraulichen Geburt findet ihr auf der Homepage des Sozialdienstes katholischer Frauen in Mainz. Die anonyme SKF-Beratungshotline erreicht ihr montags bis freitags von 8 bis 15:30 Uhr unter 06131 / 23 38 95. Außerhalb dieser Zeiten könnt ihr euch an das Hilfetelefon „Schwangere in Not“ wenden: 0800 / 40 40 020.