Erneut eine ausverkaufte Premiere im Großen Haus: Während die Fassade des Staatstheaters am Abend des 27. September bei „Mainz leuchtet“ mit Namen und Textschnipseln aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ angestrahlt wird, erlebt das Publikum drinnen das komplette Stück auf der Bühne. Die Neuinterpretation vom Mainzer Ensemble macht großen Spaß – und nimmt sich selbst ein wenig auf die Schippe.
U-Bahn-Station: In der Londoner Unterwelt
Im Großformat prangen die Reklametafeln auf den orangefarbenen Wänden der U-Bahn-Station, in die sich die Bühne im Großen Haus verwandelt hat. Ein Mann mit Bart, verfilzten Haaren und lumpiger Kleidung humpelt durch die starre Menschenmenge und bettelt mit einem Pappbecher um Kleingeld – ohne Erfolg. Die Passanten verschwinden, der Bettler bleibt. Plötzlich wendet er sich nach vorne, streckt seinen Becher den Rängen entgegen. Geld bringt das nicht, dafür aber ein paar Lacher aus dem Publikum. Mit forderndem Blick stellt er den Becher schließlich am Bühnenrand auf und beginnt zu singen. Statt einer Männerstimme, die klassischerweise „Die Moritat von Mackie Messer“ singt, erklingt jedoch der Sopran von Darstellerin Anika Baumann – und sofort ist das Publikum hin und weg.
Mackie Messer, in Mainz gespielt von Henner Momann, heißt eigentlich Macheath und ist einer der größten Gauner der Londoner Unterwelt – unter anderem wegen seiner Freundschaft zu Polizeichef Tiger Brown (Denis Larisch). Dass ausgerechnet Mackie die junge Polly Peachum (Maren Schwier) heiratet, gefällt deren Vater gar nicht gut: Jonathan Peachum (Holger Kraft), Anführer eines erfolgreichen organisierten Bettelrings in der Stadt. Probleme bereiten Mackie schließlich nicht nur Jonathan Peachum und dessen Frau (Stephanie Kämmer), sondern auch Mackies ehemalige Geliebte: Polizeichef-Tochter Lucy (Liudmila Maytak) und die Spelunkenjenny (Verena Tönjes).
Der Erfolg der „Dreigroschenoper“
Auch wenn die Handlung nicht allen bekannt sein mag – zumindest vom Titel des Stücks gehört hat so gut wie jeder: „Die Dreigroschenoper“ ist eines der bekanntesten und erfolgreichsten Theaterstücke des 20. Jahrhunderts, wurde mehrfach verfilmt und ging mit Liedern wie der schon erwähnten „Moritat von Mackie Messer“ oder „Die Seeräuber-Jenny“ in die internationale Musikgeschichte ein. Musikalisch umgesetzt wurden Brechts Texte dabei von Kurt Weill, in einer eigenwillig-fesselnden Mischung aus Jahrmarktsmusik, Tango, Jazz, Oper und Operette, vor allem letztere mit ironischem Unterton.
Finanziell gesehen wurde „Die Dreigroschenoper“ Brechts größter Erfolg. Ironisch, wenn man bedenkt, dass das Stück unter all seiner Albernheit eine ernsthafte Kritik am Kapitalismus und den düsteren Seiten des Menschen darstellen sollte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Genau diesen Widerspruch zwischen Kapitalismuskritik und kommerziellem Erfolg, zwischen Brechts erhobenem Zeigefinger und seinem eigenen Geschäftssinn, integriert Jan Neumann in seiner Inszenierung am Mainzer Staatstheater einfach in das Stück selbst. Das Ergebnis ist pures Theatergold.
Parodie der Parodie
Bereits im Programmheft beginnt die Kritik an der Kritik: Als Autoren des Stücks sind nicht nur Bertolt Brecht und der Komponist Kurt Weill genannt, sondern auch Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann. Ohne sie wäre Brecht vermutlich nie auf die „Beggar’s Opera“ von John Gay aus dem Jahr 1728 aufmerksam geworden, die dem Stück als Vorlage diente. Hauptmann war es auch, die das englische Original für Brecht ins Deutsche übersetzte. Abgespeist wurde sie dann jedoch mit 12,5 Prozent Gewinnbeteiligung, während Kurt Weill immerhin 25 Prozent bekam und Brecht selbst 65 Prozent einheimste. Auf der Mainzer Bühne hat der gewinnorientierte Brecht (Anika Baumann) deshalb selbst einen kurzen Gastauftritt, bei dem er barsch eine verborgene Elisabeth Hauptmann abbügelt, nur um dann buchstäblich bedeutungsschwangere Kritikworte in den Raum zu werfen.
Nicht nur in Momenten wie diesem hat der Zuschauer das Gefühl, dass das Stück – in sich schon eine Parodie – sich nochmals selbst auf die Schippe nimmt. Kuriose Nebenhandlungen im Hintergrund lenken des Öfteren vom Hauptgeschehen ab, während Figuren und ihre Beweggründe mithilfe von Make-up, Kostümen, gesprochenen Soundeffekten und beschrifteten Schildern zu comichaften Karikaturen werden. Die Reklametafeln, die zu Beginn des Stücks noch eindeutige Bezüge zur realen Konsum- und Kriegsgesellschaft haben, bewerben irgendwann die „Dreigroschenoper“ selbst. Immer wieder durchbrechen die Darsteller die vierte Wand, nicht nur zum Publikum, sondern mitunter zum Orchestergraben. Das Wunderbare daran: Anstatt sich in dieser Parodie eines Stücks zu verlieren, verliert Neumanns Inszenierung zu keinem Zeitpunkt ihre Lebendigkeit.
Höhepunkte im Ensemble
Einen Großteil dieser Lebendigkeit verdankt das Stück dem Mainzer Ensemble, das eine wirkungskräftige Mischung als Schauspielern und Sängern vereint. Schauspieler Henner Momann verleiht Mackie Messer unter all der Übertreibung eine Ernsthaftigkeit, die dem gesamten Stück Halt gibt. Opernsängerin Maren Schwier als Polly glänzt wie ihre Kollegin Liudmila Maytak (Lucy) nicht nur mit großartigem Gesang, sondern wickelt mit ihrem quirligem Spiel das gesamte Publikum um den Finger. Einen besonderen Gänsehautmoment liefert Opernsängerin Verena Tönjes als Spelunkenjenny, die ganz ohne Witz oder Ablenkung den „Salomonsong“ präsentieren darf.
Als geheimer Star der Inszenierung entpuppt sich jedoch Schauspielerin Anika Baumann, die nicht nur als bettelnde Moritatensängerin und Bertolt Brecht auf der Bühne steht, sondern auch mit authentischer Leichtigkeit in die Rollen des gaunerischen Münzmatthias, des Polizisten Smith, einer Hure oder auch mal einer überforderten Putzfrau schlüpft. Schnelle Kostümwechsel hinter und auf der Bühne meistert sie genauso wie verschiedene Dialekte und perfektes komödiantisches Timing. Ganz am Ende, wenn sie als bärtiger Bettler die „Moritat von Mackie Messer“ zum Abschluss bringt und ihren Münzbecher wieder vom Bühnenrand aufhebt, wird die Botschaft des Stückes klar: „Die im Dunkeln sieht man nicht.“
„Die im Dunkeln“
Minutenlangen Applaus ernteten Ensemble, Orchester und das Team um Jan Neumann für die Premiere – absolut verdient. Deutlich länger bleibt das Stück im Kopf, und das nicht nur dank der eingängigen Melodien. Denn wer sind eigentlich „die im Dunkeln“? Ist es unsere ungerechte Gesellschaft, in der immer die Verwundbarsten im Stich gelassen werden? Sind es die verborgenen Ängste, Träume und Sehnsüchte hinter der Fassade, die die Figuren auf der Bühne zur Schau stellen? Sind es die Darsteller, die mit ihrer Kunst auf die Gunst und das Geld des Publikums angewiesen sind? Oder sind es einfach nur die Menschen außerhalb des Rampenlichts – die Bühnenbauer, die Zuschauer, das Orchester –, die das Stück immer wieder in den Fokus rückt?
Dass man all diese Fragen mit „Ja“ beantworten kann, zeigt vor allem eines: „Die Dreigroschenoper“ in der Inszenierung von Jan Neumann ist ein künstlerisches Meisterwerk, das nicht nur zum Denken anregt, sondern auch zu jedem Augenblick Spaß macht. Großartiges Ensemble, geniales Team, herrliche Optik – und ein paar Ohrwürmer gibt es gratis dazu.
„Die Dreigroschenoper“ am Mainzer Staatstheater wird 2025 noch vier Mal aufgeführt: am 2. Oktober, am 12. Oktober, am 2. November sowie am 9. November. Tickets kosten zwischen 17,50 und 45,50 Euro inklusive Getränkepauschale. Weitere Infos zum Stück und dem Ticketkauf findet ihr hier.