Eigentlich sollte Klima-Aktivist Raúl Semmler wegen seiner Beteiligung an einer Straßenblockade in der Mainzer Alicenstraße am 9. Januar 2023 eine Geldstrafe zahlen. Doch weil er dagegen Einspruch einlegte, begann am Donnerstagmorgen (18. Januar 2024) ein Prozess gegen ihn am Amtsgericht Mainz. Der Vorwurf: Nötigung.
Semmler bestreitet nicht, an dem genannten Tag an der Alicenbrücke gewesen zu sein und die Straße für Autos blockiert zu haben. Was ihm jedoch wichtig war: Er selbst habe sich an diesem Tag nicht festgeklebt, sondern ein Transparent gehalten, auf dem „Lützerath lebt“ stand.
Dann erklärte er die Gründe für die Aktion, die er mit anderen Mitgliedern der Gruppierung „Letzte Generation“ durchgeführt hatte. Die Menschheit befände sich in einem Zustand kollektiver Verdrängung, aber Schmerz, Leid und Tod würden mit der Klimakrise über alle kommen. „Wir alle hier haben studiert“, wendete er sich an den Richter und den Staatsanwalt. „Wir haben viel Zeit damit verbracht, etwas zu lernen. Daraus muss jetzt etwas Gutes entstehen“, sagte er. „Es ging und geht um große Ungerechtigkeit, nicht darum, dass ich zehn Minuten, nachdem die Polizei die Veranstaltung aufgelöst hat, auf der Straße saß.“
Bauern- und Klimaproteste vergleichbar?
Semmler verglich daraufhin die Behandlung der sogenannten Klima-Kleber mit jener der protestierenden Bauern. Auch die Landwirte hätten nicht alle ihre Proteste vorab genehmigen lassen, dennoch sei der Umgang mit ihnen ein ganz anderer. Während Semmler zu viel Angst habe, seine Adresse öffentlich verlesen zu lassen, und täglich im Internet Hass und Häme erfahre, begegne man den Bauern verständnisvoll. Der Klima-Aktivist stellte die Frage in den Raum, ob die Bauern genauso hart juristisch verfolgt und bestraft würden wie die Mitglieder der Letzen Generation. Er sagte weiter, dass bei Protesten der Letzten Generation noch nie jemand gestorben sei. Bei den Bauernprotesten habe es hingegen einen Auffahrunfall gegeben, der ein Leben gefordert habe.
Daraufhin wurden mehrere Zeugen zu dem Geschehen vom 9. Januar 2023 vernommen, darunter ein Kriminalhauptkommissar aus Mainz. Dieser kam allerdings nach eigenen Angaben erst länger nach Beginn der Protestaktion auf die Alicenbrücke, zuvor sei die Bereitschaftspolizei vor Ort gewesen.
Danach wurden aufgehaltene Autofahrer befragt. Sie alle waren in den ersten zwei bis fünf Autos, die vor den Klima-Aktivisten zum Stehen kamen. Drei unter ihnen wurden eingehender angehört: Ein Student war damals zu spät zu seiner Vorlesung gekommen, eine Rentnerin hatte einen Routinetermin in der Uniklinik verpasst, den sie am nächsten Tag nachholen konnte, eine angehende Rettungssanitäterin war fast zu spät zu ihrer Prüfung gekommen. Semmler entschuldigte sich bei jedem Einzelnen.
Autofahrer auch von Polizei aufgehalten?
Es wurde außerdem angekündigt, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine Frau vernommen werden solle, die zu einer Augen-Operation musste. Die Zeugin ist relevant, da Semmler und sein Verteidiger vermuten, dass die Frau nicht nur von der Letzten Generation aufgehalten wurde, sondern auch von der Polizei. Semmler betonte, dass die Letzte Generation immer eine Rettungsgasse offen lasse. Die Frau sei allerdings von der Polizei nicht sofort hindurch geleitet worden, da die Beamten noch ihre Personalien aufnehmen mussten.
Nachdem alle anwesenden Zeugen vernommen worden waren, verlasen Semmler und sein Verteidiger mehrere Beweisanträge. Mit ihnen wollten beide beweisen, dass das Vorgehen der Letzten Generation – und damit auch das von Semmler – gerechtfertigt sei, weil „mildere Mittel“ versagt hätten. Außerdem beantragten sie, verschiedene Experten zu hören: sowohl zur Brisanz der Klimakrise als auch zu Protestarten. Der Staatsanwalt beantragte, die Beweisanträge abzulehnen, da sie „aus rechtlichen Gründen bedeutungslos“ seien. Rechtlich relevant seien die Nahziele der Demonstration – und das sei die Störung des Verkehrs gewesen. Fernziele wie der Zweck der Demonstration seien hingegen rechtlich irrelevant. Außerdem dürfe man die Absicht hinter Demonstrationen nicht bewerten. Der Richter kündigte an, demnächst über die Anträge zu entscheiden.
Zuletzt wurde beschlossen, dass der Prozess am 1. Februar weitergeführt wird. Dann soll auf Antrag der Verteidigung auch ein Mitglied der Bereitschaftspolizei gehört werden.