Es war wohl die New Yorker Band Beastie Boys, die dem Mainzer Weinhändler Peter Sichel zu mehr Berühmtheit verholfen hatte, als alles andere, was er in seinem Leben getan habe – so sagte er selbst zumindest später. Und natürlich die „Blue Nun Liebfraumilch“ – ein Wein aus Rheinhessen.
Die Erfolgsgeschichte auf der anderen Seite des Atlantiks begann mit der Flucht der jüdischen Familie Sichel aus ihrer großbürgerlichen Wohnung in Mainz im April 1935. Drei Häuser in der Kaiserstraße 26, 28 und 30 gehörten Eugen und seinen beiden Vettern Charles und Franz, den Inhabern der Weinhandlung „H. Sichel & Söhne“. Die Kinder Peter, damals 13 Jahre alt, und Ruth zogen zunächst zu Verwandten nach London.
Derweil saßen Peters Eltern noch in Mainz fest. Ein bestochener Beamter verriet ihnen, dass ihnen als „wirtschaftlich wertvolle Juden“ die Ausreise verweigert worden sei. Als ihnen dann doch die Flucht gelang, ließen sich die Eltern zunächst in Bordeaux nieder, wo der Vater die dortige Filiale der Firma übernahm. Nach einem Aufenthalt von Ruth und Peter in Bordeaux verweigerte die französische Regierung ihnen nach dem Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 die Ausreise. Peter sowie seine Eltern wurden als deutsche Staatsbürger in Lagern interniert. Nach über einem Jahr gelang es ihnen, nach Portugal auszureisen. Anfang April 1941 dann bestiegen sie in Lissabon ein Schiff nach New York.
Hier meldete sich Peter zur US Army. Seine Deutsch- und Französischkenntnisse ließen das Office of Strategic Services (OSS) auf ihn aufmerksam werden. 16 Jahre lang war er im Geheimdienst tätig, zunächst in Algier, nach Kriegsende wurde er nach Berlin versetzt, später war er in Washington tätig, ab 1956 als Chef der örtlichen Sektion der CIA in Hongkong.
Rückkehr nach Mainz
Mit 37 Jahren stieg er aus der CIA aus und in das Familiengewerbe ein – den Weinhandel. 1959 bezog er für zwei Monate Quartier in einem Mainzer Hotel, um sich vor Ort das nötige Grundwissen anzueignen und Kontakte zu knüpfen. Das ausgebombte Gelände in der Kaiserstraße hatten die Sichels an den Deutschen Gewerkschaftsbund verkauft, der dort seine Hauptverwaltung errichtete. Das restliche Areal verpachtete der Gewerkschaftsbund an die Sichels zurück, die hier ein neues Bürogebäude bauten und auch die Abfüllanlage wiederherstellen ließen.
Ende der 1960er zog H. Sichel & Söhne aus der Innenstadt nach Weisenau in eine ehemalige Textilfabrik. Bald errichtete die Familie in Alzey eine neue, hochmoderne Kellerei und Abfüllanlage. Peter Sichel zog dauerhaft nach New York und leitete die Geschäfte von dort. Zwei bis drei Monate im Jahr verbrachte er aber in einer kleinen Wohnung in Mainz. In New York lernte er auch seine zweite Frau Stella kennen, mit der er drei Töchter bekam. Sie starb 2022.
Jährlich Millionen Flaschen der „Blue Nun Liebfraumilch“ verkauft
In den 1960er- bis 80er-Jahren schaffte Sichel es, dass jährlich Millionen Flaschen der „Blue Nun Liebfraumilch“ in amerikanischen, englischen und kanadischen Supermärkten verkauft wurden. Allein im Jahr 1985 waren es mehr als eine Million verkaufte Kisten à 12 Flaschen in den USA. Der Cuvée aus Müller-Thurgau, Silvaner, Gewürztraminer, Gutedel & Co., passe „zu jedem Essen“, versprach die Werbung. Sichels Ziel sei es nie gewesen, „dem Anspruch von Weinkennern gerecht zu werden“, sondern „ein im Weingenuss unerfahrenes breites Publikum“ an das Getränk heranzuführen, sagte er einmal.
Anfang der 1990er-Jahre dann kam Adam Yauch, Bassist der New Yorker Band „Beastie Boys“, auf eine Idee. Yauch, Partner von Peter Sichels Tochter Sylvia, baute einen Schnipsel einer Werbeschallplatte von 1964 in die neueste Beastie Boys-Scheibe ein, unterlegt mit ein wenig Hip-Hop-Beat. In der Werbung hatte Peter Sichel damals ein junges Paar in die Geheimnisse des Weingenusses eingeführt. Mit leicht deutschem Akzent hatte er erklärt, dass das Geheimnis eines erfolgreichen Dinners im Wein liege. Damit wurde Sichel auf dem Beastie Boys-Album „Check Your Head“ verewigt, das 1992 veröffentlicht wurde und Platz 10 der Billboard 200 erreichte.
Sogar die Beatles haben die „Blue Nun“ in einem Lied eingebaut. Im Song „Long, Long, Long“ ist der Klang einer leeren Flasche zu hören. George Harrison erklärte den Klangeffekt in seiner Autobiografie „I, Me, Mine“ so: „Während der Aufnahme stand eine Weinflasche ‚Blue Nun‘ auf dem Leslie-Lautsprecher, und als Paul einen Orgelton anschlug, begann der Rotationslautsprecher zu vibrieren und die Flasche zu klappern. Man kann es auf der Platte hören – ganz am Ende.“
Sein Ruf als Weinexperte war legendär
Mitte der 90er war der Blue Nun-Hype vorbei, die Firma H. Sichel & Söhne wurde verkauft. Doch Peter Sichel blieb dem Wein treu. Nicht nur, dass er bis an sein Lebensende gern ein Gläschen trank, wenn auch mit Rücksicht auf sein Alter seltener. Auch trank er keine Blue Nun, sondern gute französische und kalifornische Weine. Sein Ruf als Weinexperte war legendär. Daniel Deckers, Weinfachmann der Frankfurter Allgemeine Zeitung, nannte ihn „eine der erfahrensten, einfühlsamsten und klügsten Persönlichkeiten“, die er je getroffen habe. Als Sichel im hohen Alter nicht mehr lange sitzen konnte, ließ er sich das Bett in seine Bibliothek stellen: „So habe ich meine Freunde um mich.“
Am 24. Februar 2025 schloss er in seiner Wohnung in Manhattan im Kreis seiner Angehörigen für immer die Augen. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, man brauche im Leben dreierlei: einen guten Arzt, einen guten Anwalt und einen guten Weinhändler. So wird man 102!
Der Text ist die überarbeitete und ergänzte Version des Artikels von Lothar Schilling „Der Mann, der Liebfrauenmilch salonfähig machte“, erschienen in den Mainzer Vierteljahresheften, Ausgabe 2/2025.
Die Bilder stammen aus dem Buch „Peter Sichel: Die Geheimnisse meiner drei Leben: Flüchtling, Geheimagent und Weinhändler“. Erschienen ist das Buch im Axel-Dielmann-Verlag. Deutsche Übersetzung: Karin Hielscher.