Als Marcel Friederich aus Nackenheim 2012 einen beruflichen Meilenstein erreichte, musste er sein Lächeln verstecken. Er durfte mit Anfang 20 als Reporter der Sport Bild in die USA reisen, um dort über die Basketball-Liga NBA zu berichten. Als er NBA-Legende Shaquille O’Neal um ein gemeinsames Foto bat, war er einerseits stolz. Andererseits sollte niemand Friederichs Lächeln sehen, denn er schämte sich dafür.
„Hätte es schon vor 2020 eine Pandemie gegeben, dann wäre ich morgens bis abends mit Maske rumgelaufen, um mein Gesicht zu verheimlichen.“
Marcel Friederich kam als Kind mit dem sogenannten Möbius-Syndrom zur Welt – einer seltenen neurologischen Erkrankung, die sich vor allem im Gesicht zeigt. Wenn Friederich lacht, verstärkt es das Bild, sein Gesicht wirkt dann schief. Betroffene haben zwei Optionen: Entweder gehen sie offen mit dem Syndrom um, das ihnen jeder ansehen kann oder sie gehen den Weg, den Marcel Friederich lange ging. „Das fing schon in der Schule an: Ich habe auch in der linken Hand verkürzte Finger und saß immer so auf meinem Platz, dass man meine Hand nicht sehen konnte“, erinnert sich Friederich im Gespräch mit Merkurist. „Doch mein Gesicht konnte ich nicht verstecken, zumindest auf Fotos habe ich es aber versucht. Hätte es schon vor 2020 eine Pandemie gegeben, dann wäre ich morgens bis abends mit Maske rumgelaufen, um mein Gesicht zu verheimlichen.“
Behinderung mit Fleiß und Arbeit kompensiert
Friederichs Karriere ging stetig nach oben: Volontariat an der Axel-Springer-Akademie, Redakteur bei der „Bild“-Zeitung, eine Stelle in der Abteilung für Marketing und Social-Media-Kommunikation beim Fußball-Bundesligisten RB Leipzig, Chefredakteur des Basketballmagazins „BIG – Basketball in Deutschland“, Leiter der externen Unternehmenskommunikation bei der Deutschen Fußball-Liga DFL. Doch irgendwann merkte der Nackenheimer, dass er mit seinem ständigen Streben nach beruflichem Erfolg seine Behinderung kompensieren wollte. Heute sagt er rückblickend: „Ich habe mir über meinen Job meinen Selbstwert erarbeitet.“
Die Jobs seien „cool“ gewesen, Friederich sei dafür sehr dankbar und stolz darauf. „Aber ich habe mich lange nur darüber definiert, was steht auf der Visitenkarte? Welchen Star habe ich gerade wieder getroffen?“ Friederich habe sich wie bei einem 100-Meter-Lauf gefühlt – nur startete er in diesem Selbstbild stets mit 20 Metern Rückstand auf alle anderen. „Und das habe ich mit Fleiß und ganz viel Arbeit wettgemacht. Aber ich war damals noch nicht so weit. Der Umgang mit meiner Behinderung ist der Prozess meines Lebens“, sagt er heute.
„Ich habe gemerkt: Okay, das ist noch irgendetwas in meinem Leben.“
Das Umdenken begann bei Marcel Friederich mit Anfang 30, wie er sagt. „Es ist eine Zeit, in der man sich ein bisschen mehr Gedanken über das Leben macht. Es soll nicht zu groß klingen, aber plötzlich waren da diese Fragen: Wer bin ich eigentlich mit meiner Behinderung? Warum habe ich es geschafft, mir so viele Lebensträume zu erfüllen?“ Damals wollte er nach Stationen in anderen Städten zurück in seine Heimat – diesmal direkt nach Mainz. „Ich habe gemerkt, dass ich mir Zeit zur Reflexion geben muss, mich mehr mit mir selbst beschäftigen sollte.“
Etwa zur gleichen Zeit war Friederich auf den Moebius Syndrom Deutschland e. V. gestoßen, einen Verein, in dem sich viele Menschen mit dem Syndrom versammeln. Als eine Frau aus dem Verein einen Podcast zum Möbius-Syndrom startete, lud sie Friederich als Gast ein. „Und als ich am nächsten Tag einen Social-Media-Post dazu abgesetzt habe, wusste ich nicht, wie mir geschieht“, erinnert sich Friederich. „Ich saß mit Riesenaugen vorm Bildschirm: Der Beitrag wurde zigfach geteilt, gelikt, es gab viele Interaktionen. Damit hatte ich nicht gerechnet.“ In diesem Moment habe sich für Friederich alles geändert, sagt er heute. „Ich habe gemerkt: Okay, das ist noch irgendetwas in meinem Leben.“
Mutmacher-Projekt
Inzwischen arbeitet Marcel Friederich an einem neuen Projekt – für das er hin und wieder lächelnd auf Fotos posieren muss. Heute geht er damit deutlich offener um. Er startete ein crossmediales Projekt namens „Mutmacher“ und schreibt in diesem Rahmen ein Buch für den Pinguletta-Verlag. Dafür traf sich Friederich mit bundesweit bekannten Persönlichkeiten wie dem Ex-Fußballprofi Thomas Hitzlsperger, der sich 2014 öffentlich als schwul outete oder Lilly Fritz. Sie hat eine bleibende Störung des Haltungs- und Bewegungsapparats, sitzt im Rollstuhl, engagiert sich aber gleichzeitig für mehr Akzeptanz und Verständnis für Menschen mit Behinderungen. Auch der Mainzer Politiker David Dietz war einer der Gesprächspartner Friederichs. Er lebt mit Fehlbildungen an den Gliedmaßen. Ebenso Teil des Projekts: die Influencerin „Rosi aus Mainz“. Sie berichtet auch mit 90 Jahren noch ihren Followern aus ihrem Leben, erzählt dabei unter anderem von persönlichen Erlebnissen im Krieg. Begleitet werden die Begegnungen mit Posts und Videos in sozialen Medien – veröffentlicht werden soll das Buch im November. Friederich will darin noch weitere Mutmacher vorstellen, aber auch seine eigene Geschichte erzählen.
Gemeinsam mit Hannah Schrauth von der „Rollt.Agentur“ erarbeitete Friederich die crossmediale Begleitung des Projekts, und ging dabei auch finanziell ins Risiko. „Das ist es mir wert, weil ich etwas Nachhaltiges erreichen möchte“, sagt Friederich. „Das Projekt soll auf keinen Fall esoterisch oder tiefenpsychologisch sein“, erklärt er. „Ich möchte einfach Geschichten aus dem Leben erzählen. Aus dem Leben von zwölf anderen Mutmachern, aber es geht auch um meine Geschichte.“
„All diese Menschen zu treffen zu können und ihre Geschichten zu erzählen zu dürfen, dafür bin ich sehr dankbar.
Während seiner Begegnungen habe er nochmal viel gelernt, berichtet Marcel Friederich. „Mir war beispielsweise gar nicht klar, dass etwa die Hälfte aller Menschen in Deutschland mit einer chronischen Erkrankung lebt. Etwa acht Millionen Menschen leben außerdem mit einer Behinderung. Die Größe all dieser Themen war mir nicht bewusst und deshalb bin ich jetzt noch mal viel sensibilisierter für das, was in unserer Gesellschaft passiert.“
Wenn ihr mehr über das „Mutmacher“-Crossmedia-Projekt von Marcel Friederich erfahren wollt, könnt ihr das via Linkedin oder Instagram tun.