Zehn Jahre nach ihrem angeblichen Falschgutachten stand Rechtsmedizinerin Bianca Navarro nun wieder in Mainz vor Gericht. Zwei Gerichte hatten ihr für das Gutachten „grobe Fahrlässigkeit“ vorgeworfen. In einem neuen Verfahren wurde der Fall noch einmal aufgerollt. Das Ergebnis: Die Rechtsmedizinerin hatte wohl Recht – und der kleine Leon wurde höchstwahrscheinlich misshandelt. Wie es jetzt für sie weitergeht, verrät Bianca Navarro im Merkurist-Gespräch.
Die Vorgeschichte
2013 erstellte Navarro, die damals deutschlandweit als Expertin für Kindesmisshandlung bekannt war, eine Einschätzung für das Jugendamt über die mögliche Misshandlung von zwei Brüdern. Ihr Ergebnis: Die Hirnblutungen des damals einjährigen Leon seien „hochgradig verdächtig“ für ein Schütteltrauma – das Kind wurde vielleicht sogar mehrfach geschüttelt.
Nachdem das Jugendamt Leon und seinen Bruder aus ihrer Familie holte, klagten die Eltern. Ein Kinderarzt erstellte ein Gutachten, in dem er eine Erbkrankheit für Leons Zustand verantwortlich machte. Die Eltern bekamen ihre Kinder zurück und verklagten Navarro und die Mainzer Rechtsmedizin auf Schadensersatz von über 100.000 Euro. Die musste zwar nicht Navarro, sondern das Jugendamt zahlen – doch ihre Karriere war trotzdem vorbei. Nachdem sowohl die Richter am Landgericht (LG) Mainz als auch die am Oberlandesgericht (OLG) Koblenz ihr „grobe Fahrlässigkeit“ vorwarfen, verlor sie ihre Stelle an der Mainzer Rechtsmedizin und bekam so gut wie keine Aufträge mehr.
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Das neue Urteil
Ein weiterer Prozess hätte jetzt alles nur noch schlimmer machen können: Die Versicherungskammer Bayern, die stellvertretend für das Jugendamt 107.000 Euro Schadensersatz an Leons Familie gezahlt hatte, wollte sich das Geld von Navarro zurückholen und klagte vor dem Landgericht Mainz. Dort wollten ihr die Richter in der ersten Verhandlung im Jahr 2018 einen Vergleich anbieten – also eine Kompromisszahlung an die Versicherung ohne richtiges Urteil.
Navarro und ihre Anwältin ließen jedoch nicht locker und überzeugten das Gericht davon, ein neues Gutachten anzufordern. Das Ergebnis: Navarros Gutachten sei nicht grob fahrlässig. Es sei auch nicht fehlerhaft. Stattdessen kommen die Rechtsmediziner Matthias Graw und Randolph Penning von der Ludwig-Maximilians-Universität München in ihrem Gutachten von 2023 zu dem gleichen Schluss wie Navarro vor zehn Jahren: Es bestehe der „dringende Verdacht“, dass Leon misshandelt wurde (wir berichteten).
Trotzdem sei Navarro vor dem Verhandlungstermin am 15. November 2023 „unglaublich aufgeregt“ gewesen. „In der ersten Verhandlung im Jahr 2018 hatte die Kammer ja zu verstehen gegeben, dass sie dem kinderärztlichen Gutachten folgen wolle“, erzählt sie gegenüber Merkurist. Dann aber die Überraschung: Obwohl der Prozess an diesem Tag noch gar nicht abgeschlossen werden sollte, verkündeten die Richterinnen nach nur 25 Minuten das Urteil. Die Klage gegen Navarro wurde abgewiesen. „Ich habe geweint“, erzählt Navarro. „Ich war dankbar, ich war unglaublich erleichtert.“
Fehler in vorherigen Gerichtsprozessen
Im schriftlichen Urteil, das Navarro am Donnerstag (30. November) schließlich zugeschickt wurde und das auch Merkurist vorliegt, führt das Gericht die Entscheidung weiter aus. Der einzige Punkt, den man an Navarros Gutachten von 2013 kritisieren könne, seien einige zu starke Formulierungen. So wäre statt des „hochgradigen Verdachts“ ein „dringender Verdacht“ angemessener gewesen. Aber selbst, wenn Navarro diese andere Formulierung gewählt hätte: „Das Jugendamt der Stadt Ludwigshafen wäre in gleicher Art und Weise tätig geworden und war aus Sicht der Kammer auch hierzu verpflichtet“, so das Urteil.
Das Urteil macht deutlich: Navarros Gutachten über Leon war alles andere als grob fahrlässig. Weiter noch: Es handelte sich gar nicht um ein offizielles Gutachten. Die Einschätzung, die Navarro 2013 für das Jugendamt angefertigt hatte, war eine kurze Stellungnahme und hätte vor Gericht eigentlich niemals als offizielles Gutachten gewertet werden dürfen. „Wenn mich das Jugendamt fragt, ob das eine Kindesmisshandlung ist, kann ich ja nicht mehrere Wochen daran sitzen, oder gar zweieinhalb Jahre wie die Münchner“, sagt Navarro. „Die müssen ja jetzt eine Entscheidung treffen.“
Dass ihre Stellungnahme vor Gericht trotzdem mehrfach als echtes Gutachten gewertet wurde und dass das Gegengutachten von einem Kinderarzt statt von anderen Rechtsmedizinern kam, kann Navarro nicht nachvollziehen. „Ich frage mich echt, wie es sein kann, dass zwei Gerichtskammern und ein Senat mit insgesamt neun erfahrenen Zivilrichtern das nicht wussten“, sagt Navarro. „Eigentlich hätte man mich erstmal beauftragen sollen, ein Gerichtsgutachten basierend auf der rechtsmedizinischen Stellungnahme zu erstellen.“
„Unglaubliches Unrecht“
Das sei auch der Grund dafür, dass sich die Rechtsmedizinerin gerade nicht nur freuen kann. Einerseits sei sie glücklich, dass endlich die Wahrheit ans Licht gekommen sei. „Andererseits geht es mir noch viel schlechter als die zehn Jahre davor. Jetzt, wo es schwarz auf weiß steht, dass ich völlig umsonst gelitten habe, dass ich umsonst meinen Job verloren habe, dass ich umsonst Morddrohungen bekommen habe – man hat mir einfach unglaubliches Unrecht getan“, erzählt Navarro. „Und das wird einem jetzt einfach bewusst, wie unfair das war.“
Für Navarro ist das neue Mainzer Urteil deshalb auch nicht das Ende der Geschichte. „Es gibt einfach bestimmte Dinge, die ich glaube tun zu müssen“, sagt sie. Unter anderem wolle sie nun selbst vor Gericht Schadensersatz fordern. „Da ist natürlich die Frage: Wen kann man jetzt zur Rechenschaft ziehen für diesen kompletten und auch unwiderruflichen Zusammenbruch meiner Karriere?“
Doch vor allem wolle sie weiter für den inzwischen 12-jährigen Jungen kämpfen, der 2013 misshandelt wurde und seitdem schwerbehindert sei: „Hier geht es nicht nur um mich, hier geht es auch um Leon.“ Sie wolle auf jeden Fall eine Strafanzeige wegen schwerer Kindesmisshandlung stellen. „Ich finde, er sollte wissen, dass er Opfer einer Misshandlung geworden ist.“
Grund zur Hoffnung
Unabhängig davon, wie diese Prozesse ausgehen, will Navarro nun wieder mehr im Bereich der Rechtsmedizin arbeiten. Und auch, wenn sie sich vor dem Urteil vom 15. November nicht hätte vorstellen können, dass es jemals wieder wird wie vorher: Nur wenige Tage später habe sie ihren ersten gerichtsmedizinischen Auftrag bekommen. Das mache ihr Hoffnung. „Ich wünsche mir einfach mal wieder so ein ganz banales Fahrtüchtigkeitsgutachten, wo jemand mit ein bisschen Cannabis Auto gefahren ist“, sagt Navarro.
Für die Themen Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch wolle sie sich jedoch weiter einsetzen. Sollte sie tatsächlich Schadensersatz erhalten, wolle sie das Geld in einen eigenen Obduktionssaal investieren, in dem sie auch freiberuflich entsprechende Fälle untersuchen könnte – oder in eine Wohngruppe für Kinder und Jugendliche, die von Missbrauch und Misshandlung betroffen sind.
Hätte die Versicherungskammer sie nicht verklagt, hätte sie diese Chance wahrscheinlich nie bekommen, davon ist Navarro überzeugt. „Am Ende der Verhandlung bin ich auf die Gegenseite gelaufen, habe dem Kläger die Hand gegeben und gesagt: ‘Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken’“, erzählt sie. „Und das ist ja wohl auch eine Sensation, dass man sich dafür bedankt, dass man verklagt wurde.“