In Mainz lebt mindestens jedes sechste Kind in Armut. Auch wenn hollywoodreife Erfolgsgeschichten gerne erzählen, wie Kinder aus armen Verhältnissen Karriere machen: Die Wahrheit sieht oft anders aus. Denn arme Kinder starten nicht unter gleichen Voraussetzungen ins Leben, oder anders gesagt: Wer als Kind arm ist, droht ein Leben lang in der Armutsspirale gefangen zu sein. Zudem drohen soziale Isolation und gesundheitliche Nachteile.
Um einen größeren Fokus auf soziale Ungerechtigkeit zu lenken, hat sich im Mai das „Mainzer Bündnis „Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche“ gegründet – ein Zusammenschluss aus vielen Sozial- und Hilfseinrichtungen. Regine Schuster (Paritätischer Wohlfahrtsverband) und Friedemann Schindler (terre des hommes-AG Mainz) sind zwei Sprecher des Bündnisses, das auf der eigenen Website über sich erklärt: „Da sich die Mainzer Politik und Verwaltung nicht entschieden für gleiche Chancen einsetzt, haben wir im April 2023 ein Bündnis gegründet. Wir wollen eine starke Lobby für die Rechte armutsgefährdeter Kinder sein.“
Wo in Mainz sind Kinder von Armut betroffen?
In den Mainzer Stadtteilen Lerchenberg (30 Prozent), Finthen (26 Prozent), Mombach (24 Prozent) und Marienborn (23 Prozent) ist der Anteil der unter 6-Jährigen am größten, die in Familien mit Mindestsicherung aufwachsen. Dort ist jedes dritte oder vierte Kind von Armut betroffen. Am geringsten ist die Armutsquote in Drais (2 Prozent) und in Bretzenheim (9 Prozent). Die letzte Sozialraumanalyse in Mainz erfolgte 2017. Auch wegen der Corona-Pandemie gab es seitdem keine neue Analyse, weshalb das Mainzer Bündnis in vielen Fällen auf Grundlage anderer Studien ein Gesamtbild zur Armut in Mainz zusammenbauen muss.
„Es darf eigentlich überhaupt nicht sein, dass diese Rechte eingeklagt werden müssen. Alle Kinder haben ein Recht auf Bildung“ - Regine Schuster
Und dann ist da noch die Frage, wie präzise die Analysen bisher waren. „Es ist nicht ein ganzer Stadtteil von Armut betroffen, sondern spezielle Siedlungen und Quartiere in einem Stadtteil. Hier muss noch genauer hingesehen werden“, sagt Regine Schuster im Gespräch mit Merkurist. Warum der genaue Blick lohnt, erklärt Friedemann Schindler an einem Beispiel: „Wir wissen beispielsweise aus Mainz-Lerchenberg, dass Eltern aus wohlhabenden Gegenden die Kita-Plätze ihrer Kinder einklagen, was ihnen auch zusteht.“
In den ärmeren Quartieren würden die meisten Eltern genau das nicht tun, obwohl ein früher Kita-Besuch für die Chancen ihrer Kinder besonders wichtig sei. „Dort wissen viele Eltern gar nicht, was ihnen zusteht – teilweise wegen der Sprachbarriere – oder wie sie an einen Kita-Platz kommen sollen – teilweise weil dort die wenigsten eine Rechtsschutzversicherung haben. Es kommt keiner vorbei und klärt die Eltern über ihre Rechte auf.“ Leidtragende seien dann die Kinder. „Es darf eigentlich überhaupt nicht sein, dass diese Rechte eingeklagt werden müssen. Alle Kinder haben ein Recht auf Bildung“, so Regine Schuster.
Corona-Krise setzte Kindern massiv zu
Ziel des Bündnisses sei es aber nicht nur, konkret das Thema Armut in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr gehe aus auch um die fehlende Teilhabe der Kinder am Sozialleben, etwa der Kinobesuch oder die Mitgliedschaft im Sportverein. „Kinder haben sich während der Pandemie teilweise zurückgezogen, sind und waren enormen psychischen Belastungen ausgesetzt“, so Schuster. „Es heißt immer, wir seien gut durch die Corona-Krise gekommen. Ja, die Mehrheit der Menschen in diesem Land hat das Virus überlebt. Aber was bei Kindern und Familien alles an sozialen Problemen hängengeblieben ist, das arbeiten wir eigentlich gerade erst richtig auf“, sagt Schuster. Die Probleme zeigten auf, dass unsere Bildungs- und Sozialsysteme an vielen Stellen in Deutschland nicht krisenfest seien.
Die Liste der Forderungen des Bündnisses an die Mainzer Politik ist lang: Sozialleistungen sollten deutlich unbürokratischer erhalten werden können, Familien in sozial prekären Lebenslagen sollen deutlich gezielter unterstützt werden, der Mainzer Stadtvorstand soll ressortübergreifende Arbeitsstrukturen schaffen (mehr zu den Forderungen). Auf der Website des Bündnisses zeigt sich auch der Mainzer Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos) mit einem Bild und der Aussage: „Es ist erschreckend, dass jedes 6. Kind in Mainz von Armut betroffen ist. Das zu ändern, ist mir eine Herzensangelegenheit.“ Laut Regine Schuster habe es bereits ein Treffen zwischen dem Bündnis und dem Oberbürgermeister gegeben, ein weiterer Termin stehe in naher Zukunft an. Mit welchen Mitteln OB Haase die Probleme im Detail angehen will, sei aber noch unklar.
Besonders durch den Geldsegen der Biontech-Gewerbesteuer gebe es für die Stadt Mainz nun keine Ausreden mehr. Ein Paket über rund 4,7 Millionen Euro für die Jugendhilfe im Frühsommer 2022 – damals noch unter OB Ebling (SPD) – habe jedenfalls nicht zu einer nachhaltigen Lösung beigetragen. „Unter anderem sollten von dem Geld neue Tischkicker finanziert werden. Da muss man fast schon lachen, denn so eine Einzelmaßnahme verbessert die soziale Situation armutsgefährdeter Kinder nicht grundlegend“, kritisiert Friedemann Schindler. Stattdessen erklärt das Bündnis: „Wir fordern eine sozialpolitische Offensive mit dem Ziel, Kinderarmut endlich entschieden zu bekämpfen und gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche herzustellen. Vernachlässigungsstrukturen müssten so früh wie möglich durchbrochen werden. Dies ist zuvörderst Aufgabe der Mainzer Politik und Stadtverwaltung.“
Weitere Informationen zum Mainzer Bündnis Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche erhaltet ihr hier. Informationen zum aktuellen „Kinderreport Deutschland“ findet ihr hier.