„Es war einmal...“ – die lange Suche nach den vergessenen Nullfünfern

Über das jüdische Leben bei Mainz 05 vor 1933 ist wenig bekannt. Mainz-05-Fan Nils Friedrich wollte das ändern – und hat drei Jahre lang recherchiert. Nun veröffentlicht er seine Ergebnisse in seinem Fanzine „Es war einmal...“.

„Es war einmal...“ – die lange Suche nach den vergessenen Nullfünfern

In seinem Mainz-05-Fanzine „Es war einmal…“ widmet sich Nils Friedrich ehrenamtlich historischen Themen rund um den 1. FSV Mainz 05. Während es in den ersten Ausgaben um die Amateurmeisterschaft der 05er 1982 und ein Spiel 1926 gegen den Schweizer Verein Servette Genf ging, geht es im neuen Heft um die Geschichte von zwölf jüdischen Mainzern, die vor dem Zweiten Weltkrieg Teil des FSV waren. Dabei recherchierte Nils Friedrich über Jahre, um die Geschichten der „vergessenen Nullfünfer“ erzählen zu können.

Im Merkurist-Interview berichtet Friedrich von seinen aufwändigen Recherchen und seinem eigenen Werdegang als FSV-Fan.

Merkurist: Nils Friederich, können Sie sich noch erinnern, wie Sie zum Mainz-05-Fan wurden?

Nils Friedrich: Obwohl ich Mainzer bin, war ich früher Fan des FC Bayern München. Ein paar Mal im Jahr bin ich sogar ins alte Olympiastadion gefahren. Kurz vor Weihnachten 1999 spielte Mainz 05 als Zweitligist im DFB-Pokal bei den Bayern. Ich bin mit meinem Opa im Sonderzug mit den 05-Fans nach München gereist, habe meinen ersten Schal bekommen – dieses Erlebnis hat mich so sehr geprägt, dass ich zum Mainz-05-Fan wurde.

Sie haben sich in den kommenden Jahren dann sehr in der Mainzer Fanszene engagiert.

2004 bin ich Teil der damals noch jungen Ultraszene geworden, war ab 2011 Mitglied der „Handkäsmaffia“ und habe mich generell viel in der Fanszene eingebracht. Heute bin ich noch im Förderverein des Fanprojekts tätig.

Was hat Sie so begeistert?

Das war die Gemeinschaft, die Fankultur, das Ultrasein. Anfang der 2000er war die Ultrabewegung eine junge, aufstrebende Jugendkultur – das hat mich gecatcht. Ich habe dort viele Freunde gefunden, mein Leben ganz nach Fußball ausgerichtet, bin 16, 17 Jahre zu jedem Spiel gefahren.

Wann kam der Punkt, an dem Sie Ihren Fokus auf die Historie von Mainz 05 gelegt haben?

Interessiert hat mich das eigentlich schon immer. Ich hatte nur nie die Zeit, mich intensiver damit auseinanderzusetzen. Als 20-Jähriger ist es auch nicht so reizvoll, sich in irgendein Archiv zu setzen und stundenlang zu recherchieren. Während der Corona-Pandemie hatte ich diese Zeit plötzlich, weil es auf einmal so viel Leerlauf gab.

Die Deutsche Amateurmeisterschaft von Mainz 05 im Jahr 1982 jährte sich zum vierzigsten Mal und ich habe damit angefangen, mich in das Thema hineinzufuchsen. Irgendwie war es wohl der richtige Zeitpunkt für mich. Im August 2022 konnte ich dann die erste Ausgabe des Fanzines „Es war einmal…“ veröffentlichen. Ein knappes Jahr später folgte dann die zweite Ausgabe zu einem Freundschaftsspiel gegen Servette Genf im Jahr 1926 – zugegeben, ein Nerd-Thema (lacht).

Gerade die jüdische Historie von Mainz 05 ist ein Thema, zu dem Sie in den vergangenen Jahren viel recherchiert haben. Unter anderem auch zum jüdischen Vereinsvorsitzenden Eugen Salomon, der später von den Nazis in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Warum interessieren Sie sich so für diesen Aspekt der FSV-Historie?

Ich würde gar nicht sagen, dass mich dieses Thema auf herausragende Weise interessiert – obwohl es gerade in der aktuellen Zeit sehr wichtig ist. Ich fand spannend, dass die Person Eugen Salomon inzwischen so herausragt, zu einer Leuchtturmfigur geworden ist. Gleichzeitig hatte Mainz 05 lange Zeit den Stempel als „Judenverein“. Eugen Salomon kennt inzwischen jeder in Mainz – doch es waren ja viel mehr jüdische Menschen bei Mainz 05 aktiv. Ich habe mir also die Frage gestellt: Wer waren die anderen jüdischen Mitglieder von Mainz 05 vor 1933?

Die dritte Ausgabe von „Es war einmal…“ erscheint am 22. April. Darin stellen Sie zwölf vergessene Nullfünfer und ihre Lebensgeschichten vor. Wann merkten Sie bei Ihren Recherchen, dass Sie so viel Material gefunden haben, um gleich ein ganzes Heft dazu zu herausgeben zu können?

Ich hatte diese Geschichte schon länger im Kopf und mir zuvor angesehen, wie das Thema in anderen Vereinen angegangen wurde. Mein Maßstab war aber gar nicht, eine gewisse Seitenzahl zu erreichen. Auch fünf Geschichten hätten schon gereicht, um den Status Quo zu übertreffen.

Welche Lebensgeschichten erzählen Sie in Ihrem Fanzine?

Es sind die Lebensgeschichten von zwölf jüdischen Menschen mit Mainz-05-Bezug. Dazu gehört auch Eugen Salomon, dessen Geschichte ich wahrscheinlich noch nie so ausführlich an einem Stück erzählt habe. Es sind aber auch andere Namen dabei: Etwa Carl Lahnstein oder Erwin Drucker, die beide große Kaufhäuser in Mainz führten. Während man diese beiden auch vorher schon mit Mainz 05 in Verbindung brachte, erzähle ich auch von Personen, bei denen das zuvor anders war.

Wie schwer war es, zu all diesen Menschen relevante Informationen zu recherchieren?

Bei Otto Wolfskehl zum Beispiel war es schwierig. Da hatte ich erstmal nur den Namen, dann eine Verbindung, dass er auf einer der Deportationslisten stand. Ab dann fängt man an sich zu fragen: Wo hat er gewohnt, für was hat er Auszeichnungen von Mainz 05 erhalten? Über diese Schritte stößt man immer wieder auf neue Erkenntnisse.

Ich erzähle aber auch die Geschichte von Eugen Salomons Bruder Emil, der seinerzeit ein erfolgreicher und engagierter Leichtathlet bei Mainz 05 war. Anders als sein Bruder Eugen überlebte Emil Salomon die Schoah, lebte noch bis in die Siebzigerjahre in Luxemburg. Ich habe für das Heft mit seiner Enkelin gesprochen und bin zu dem Gebäude gereist, in dem er damals lebte.

Klingt so, als hätten Sie viele Stunden in Archiven verbracht…

Einiges konnte ich zum Glück online recherchieren. Da gibt es sogar Datenbanken, die man von zu Hause aus durchstöbern kann. Das macht es natürlich einfacher, wenn man nicht ortsgebunden arbeiten muss, nicht auf Öffnungszeiten von Archiven angewiesen ist. Aber ich war mitunter auch im Landesarchiv in Speyer, wo ich mir Akten habe raussuchen lassen, die ich dann nur vor Ort einsehen konnte. Auch im Mainzer Stadtarchiv bin ich immer wieder fündig geworden oder in den „Arolsen Archives“, die Informationen zur NS-Verfolgung zusammentragen.

Wie lange haben Sie für die aktuelle Ausgabe von „Es war einmal…“ recherchiert?

Ziemlich genau drei Jahre. Wobei ich in diesem Zeitraum nicht immer nur intensiv zu diesem Thema recherchiert habe. Dazu zählen aber gefühlt 100 Stunden des Korrekturlesens oder der Absicherung, ob die Recherchewege auch wirklich korrekt waren. Dabei ploppt dann auch immer mal wieder ein neuer Anknüpfungspunkt auf.

Was hat es mit Ihnen gemacht, sich so intensiv mit diesen verfolgten Personen auseinanderzusetzen?

Am Anfang sind es nur Namen, doch irgendwann findet man Bilder oder auch Fingerabdrücke zu diesen Personen – ganz persönliche Merkmale. Ich hatte den Eindruck, dass sich so eine Verbindung zu den Menschen ergibt. Von den zwölf erwähnten Personen ist mehr als die Hälfte deportiert worden, ein paar von ihnen konnten flüchten und sich ins Ausland absetzen. Man muss sich immer vor Augen halten: Selbst wer die Schoah überlebte, wusste über Jahre nicht, was aus seiner Familie wurde. Und auch die eigenen Erlebnisse schüttelten diese Menschen ja nicht einfach so ab. Das hat mich bewegt.

Würden Sie sich wünschen, dass Mainz 05 die Aufarbeitung der eigenen Rolle in der NS-Zeit noch deutlicher gestaltet?

Aufarbeitung bedeutet ja immer: Wir arbeiten mal etwas auf und gut ist. Ich halte den Begriff Auseinandersetzung inzwischen für besser – das habe ich aber auch erst während meiner Recherche gelernt. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Ja, das müsste Mainz 05 definitiv machen. Ich selbst mache das in meiner Freizeit, bin kein Historiker. Wenn sich ein Experte mit dem Thema befassen würde, würde er vielleicht noch weitere Namen finden.

Was sollte bei den Lesern der neuen Ausgabe von „Es war einmal…“ am besten im Kopf hängen bleiben?

Ich würde mir wünschen, dass man die erwähnten Menschen so aufnimmt und so wertschätzt, wie man das mit Eugen Salomon gemacht hat. Auch die anderen Personen sollten als selbstverständlicher Teil von Mainz 05 wahrgenommen werden.

Danke für das Gespräch, Nils Friedrich.

Die aktuelle Ausgabe des Fanzines „Es war einmal…“ erscheint am 22. April und ist in den Mainz-05-Fanshops, bei Presse Wettig in der Gaustraße 8 oder online erhältlich. Weitere Informationen findet ihr hier.

Einige Geschichten aus der aktuellen Ausgabe präsentiert Nils Friedrich auch am Donnerstag, den 24. April, im Fanhaus Mainz (Weisenauer Straße 15). Weitere Infos dazu gibt es hier.