Ein Jahr Ukraine-Krieg: Was ein Mainzer Kriegsreporter an der Front erlebt hat

Im Merkurist-Interview erzählt der Kriegsreporter Konstantin Flemig, wie es sich anfühlt, in Lebensgefahr zu sein, was er im Ukraine-Krieg gesehen hat und warum er sich für einen der gefährlichsten Berufe der Welt entschieden hat.

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Was ein Mainzer Kriegsreporter an der Front erlebt hat

Konstantin Flemig war schon in Afghanistan, im Irak, Syrien, Armenien, Georgien, Kenia und Tansania – dort, wo Kriege, Konflikte und Zerstörung herrschen und viele Menschen fliehen. Zuletzt war er in der Ukraine, wo seit nun einem Jahr der russische Angriffskrieg wütet. Im YouTube-Format „Crisis – Hinter der Front“ zeigen der Mainzer Kriegsreporter und sein Team Menschen und Geschichten, die uns sonst vielleicht nicht erreichen würden.

Schon vor der Entstehung des Formats „Crisis“ war Flemig als Kriegsreporter unterwegs, sowohl während seiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München und der Filmakademie Baden-Württemberg, als auch in seiner Freizeit. Seit sieben Jahren wohnt der gebürtige Stuttgarter nun in Mainz und sagt über die Stadt, dass er immer wieder gerne zu ihr zurückkehrt – vor allem, wenn er von einem Dreh an der Front zurückkommt.

Im Merkurist-Interview hat Konstantin Flemig von seinem Alltag als Kriegsreporter und seinen Erfahrungen in der Ukraine erzählt.

Merkurist: Vor einem Jahr ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen und macht seitdem einen großen Teil unserer Nachrichten aus. Wie haben Sie die Situation vor Ort erlebt? Unterscheidet sich das Bild, das Sie gesehen haben, von dem, das man sich in Deutschland macht?

Konstantin Flemig: Gerade, wenn man im Osten ist, sieht man teilweise unglaubliche Zerstörung in den Städten, die umkämpft waren oder immer noch sind, so wie in Bachmut. Gleichzeitig hat man aber auch Städte wie Kiew, wo man fast überhaupt nichts davon sieht und das Leben einigermaßen normal weitergeht. Diese zwei Seiten des Ganzen kann man schwer in den Medien transportieren. Zeigt man die Normalität, dann gibt es Leute, die sagen, „So schlimm kann es doch gar nicht sein, die sind ja sogar noch in Restaurants“. Zeigt man jedoch nur diese kriegerische Seite, läuft man Gefahr, dass die Leute denken, das ganze Land sei kaputt und das Kämpfen lohne sich ohnehin nicht mehr. Beides zu zeigen, ist eine Herausforderung der Medien.

Was macht gerade den Ukraine-Krieg so herausfordernd?

Der Krieg in der Ukraine stellt eine ganz andere Situation dar als die Erfahrungen, die ich bislang hatte, zum Beispiel mit Terrorgruppen oder Aufständischen wie dem Islamischen Staat – also asymmetrische Kriegsführung. In der Ukraine sehen wir gerade eine besondere Form der Kriegsführung: etwas, von dem man geglaubt hatte, dass es das im 21. Jahrhundert gar nicht mehr geben würde. Hier kämpft ein Staat mit einer Armee gegen einen anderen Staat mit einer anderen Armee. Beide haben Großgeräte, Panzer, Artillerie, schießen aufeinander. Ich selbst hätte auch nicht gedacht, dass sowas ausgerechnet in Europa nochmal passieren würde.

Gab es in der Ukraine etwas, das Sie besonders berührt hat?

Es war schwer zu sehen, wie auch Kinder unter diesem Konflikt leiden. Wir waren in einer Notunterkunft in Bachmut, wo die Menschen sich duschen können, Essen und Versorgung bekommen. Einige Kinder haben in einer Spielecke ferngesehen. Dann kam ein Stromausfall und es hat ein paar Minuten gedauert, bis der Generator anging. Es war stockdunkel da drin. Eines der Kinder hat zu schreien angefangen und die Betreuerin hat sich ganz liebevoll um das Kind gekümmert. Später haben wir mit ihr gesprochen und sie hat erzählt, dass das eigentlich immer wieder passiert. Dass viele Kinder so strapaziert und traumatisiert sind, dass sie, wenn es dunkel wird, Panik bekommen und sich an Erwachsene klammern. Das wird auch nicht aufhören, wenn der Krieg jetzt zu Ende wäre. Es sind ganze Generationen, die noch traumatisiert sind und die Folgen des Krieges werden sich noch über die nächsten Generationen ziehen. An dieses Erlebnis denke ich gerade oft.

Wie haben Sie es denn erlebt, kann Krieg zum Alltag werden? Es gibt ja Menschen, die teilweise jahrelang in solchen Zuständen leben müssen.

Ich befürchte, ja. Inwieweit man wirklich von Alltag reden kann, ist natürlich immer schwierig. In Bachmut zum Beispiel wird seit Monaten gekämpft. Die Leute dort haben so eine gewisse Gewöhnung. Man lebt einfach sein Leben weiter. Ein paar Kilometer von der Front entfernt, in Kramatorsk, gibt es Restaurants, Pizzerien, Sushi-Läden, all das, wo Pärchen sitzen und Familien essen gehen. Gleichzeitig haben wir aber auch erlebt, wie russische Raketen einschlagen und einen Wohnblock treffen. Aber trotzdem machen die Menschen irgendwie weiter, denn es hilft ja nichts. Es gibt keine Alternative. Irgendwie finden Menschen immer Normalität, auch im Krieg und in all dem Schrecken.

Leid gibt es ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch in zahlreichen anderen Kriegen auf der Welt. Frustriert es Sie manchmal, dass der Ukraine-Krieg gerade so stark im Fokus der Berichterstattung ist und andere Konflikte dadurch vielleicht in den Hintergrund rücken?

Frustrieren würde ich nicht sagen. Ich bin dankbar, dass über den Ukraine-Krieg so viel berichtet wird und nicht irgendwann eine Gewohnheit eingetreten ist. Das wünsche ich mir für andere Konflikte auch. Aber ich verstehe, dass es gerade so im Fokus steht. Die Ukraine ist fast ein Nachbarland von Deutschland, nur Polen liegt dazwischen. Es ist in Europa, es betrifft uns alle. Das russische Expansionsstreben kann auch die EU und die NATO-Staaten betreffen. Wir beobachten aber natürlich auch selbst, dass Konflikte, die uns nahe sind, egal ob geografisch oder emotional, vom Publikum mehr angeschaut werden. Das sehen wir bei der Ukraine, aber auch bei den Taliban und dem Islamischen Staat. Wenn man aber versucht, die Huthi-Rebellen im Jemen zu erklären, oder die Rebellentruppe M23 im Kongo, können die Leute teilweise überhaupt nichts damit anfangen und schalten einfach ab. Das ist ein Teufelskreis. Die Leute interessieren sich nicht, weil sie wenig darüber wissen, deshalb wird weniger berichtet, deswegen wissen die Leute weniger. Bei manchen Konflikten, wie dem Tigray-Konflikt in Äthiopien, hatte man als europäischer Journalist aber auch fast keine Chance, vor Ort zu berichten, weil alles abgeschottet wurde. Da hat man es in der Ukraine schon leichter. Kurzgesagt: Es spielt sehr viel rein, warum über manche Konflikte berichtet wurde und über andere nicht. Manche Punkte kann ich verstehen, bei anderen finde ich es schade.

Ist das auch der Grund, aus dem Sie Kriegsreporter geworden sind?

Ich erinnere mich noch daran, als ich in der 8. Klasse war, 2002 bis 2003. Da war der Irak-Krieg gerade so am Heraufdämmern. An einem Tag waren auf der ganzen Welt riesengroße Demos, ich selbst war auch auf einer davon. In der Zeitung wurde auf mehreren Seiten über den Konflikt berichtet, auf den ersten zehn oder 15 Seiten ging alles nur um den Irak. Auf Seite 20 oder 30 war dann ein kleiner Abschnitt, nur zehn Zeilen oder so, wo darüber berichtet wurde, dass der Krieg im Kongo vorbei ist und dass man schätzt, dass es drei bis fünf Millionen Tote gab in den letzten Jahren. Das war alles. Es war diese kleine Schlagzeile, dieser kleine Absatz. Und da habe ich zum ersten Mal gedacht, so mit 14 Jahren: Wie kann es eigentlich sein, dass über das eine so groß berichtet wird und über das andere so gut wie gar nicht? Den Artikel von damals habe ich auch noch, der hängt über meinem Schreibtisch.

Was fasziniert Sie denn am Krieg? Warum wollen Sie gerade darüber berichten?

Ich glaube, es sind mehrere Gründe. Es ist auf jeden Fall dieses Idealistische. Man will, dass darüber berichtet wird. Man möchte, dass es nicht in Vergessenheit gerät, weil es einfach so furchtbar ist und eigentlich so leicht beendet werden könnte. Krieg ist keine Naturkatastrophe. Krieg könnte aufhören, wenn die Leute aufhören, zu kämpfen. Aber es spielt natürlich auch eine Rolle, dass es einfach ein unheimlich spannender Beruf ist. Man sieht, wie Geschichte gemacht wird. Man ist da, wohin die ganze Welt schaut, man kann sich einen eigenen Eindruck machen. Und es ist immer mit einem gewissen Abenteuer verbunden. Wo ich in den letzten Monaten überall war, von Kenia über Georgien und Armenien in den Irak und die Ukraine, Afghanistan: Oft sind es Orte, die man sonst nie sehen würde, Eindrücke, die man nie erleben könnte. Das ist natürlich auch ein großer Teil davon, das gebe ich ganz ehrlich zu.

Wie ist Ihre persönliche Einstellung zum Krieg? Sind Sie da pazifistisch oder sagen Sie auch, manche Konflikte müssen durch Krieg gelöst werden?

Tief im Herzen bin ich Pazifist, in einer idealen Welt. Pazifismus funktioniert, wenn alle mitmachen. Sobald jemand nicht mitmacht, muss manchmal militärisch eingegriffen werden. Beispiel: Der Völkermord an den Jesiden durch den IS. Da hätten keinerlei Verhandlungen geholfen. Das war ein Völkermord, der gezielt und mit unfassbarer Brutalität durchgeführt wurde, während die Welt zugeschaut hat. Wenn man da nicht militärisch eingegriffen hätte, wäre es nochmal schlimmer geworden. Und wenn man früher eingegriffen hätte, hätte es vielleicht noch mehr Menschen das Leben retten können. Man hätte nicht tausende vergewaltigte und versklavte Frauen gehabt. Ich glaube, in manchen Situationen ist militärische Gewalt besser als die Alternative, wenn die Alternativen Massenvernichtung und Völkermord sind.

Nehmen Sie all das, was Sie sehen, auch nach Hause mit? Wie schaffen Sie es, mental gesund zu bleiben und sich immer wieder diesen Situationen zu stellen?

Ich glaube, es spielt eine große Rolle, regelmäßig darüber zu reden. Dann ist es auch noch ganz wichtig, dass wir unser Material nachträglich sichten und bearbeiten. Ab dem Punkt, wo das Video veröffentlicht ist und mit der Welt geteilt wird, ist es fast wie ein Abschluss. Bisher hat das bei mir gut funktioniert, aber wenn ich irgendwann merken sollte, dass es nicht mehr geht, hätte ich auch keine Hemmungen, professionell mit Menschen zu reden – am besten mit Therapeuten, die auf Kriegserfahrungen spezialisiert sind. Es muss absolut normalisiert werden, sich nicht nur um seine körperliche, sondern auch seine psychische Gesundheit zu kümmern.

Sie berichten ja nicht nur über Kriege und Konflikte, sondern auch über die Arbeit als Kriegsreporter selbst. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ich glaube, die simple Antwort ist: Weil es mich selbst sehr interessiert hat. Wie diese Bilder überhaupt hierherkommen, die wir aus Kriegsgebieten sehen, ist eine sehr relevante Frage, spätestens seit der ganzen Debatte um Fake News und Propaganda. Alle Seiten versuchen, die Öffentlichkeit zu beeinflussen und auf ihre Seite zu ziehen. Deswegen finde ich es auch so wichtig, dass man auf diese Meta-Ebene schaut und sich die Berichterstattung selbst anguckt. Deshalb versuchen wir bei „Crisis“, sowohl die Reportage zu sein, als auch einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Diese starke Transparenz kommt sehr gut an, gerade auch bei jungen Zuschauern und auf YouTube. Wir sind nicht dieser traditionelle allwissende Erklärer. Man zeigt: Ich bin hier als Journalist, ich kann genauso Fehler machen wie alle anderen und zeige euch einfach mal, was wir hier erleben.

Haben Sie oft Angst? Welche Situationen waren für Sie besonders furchteinflößend?

Angst gehört auf jeden Fall auch dazu, meistens als ganz unterschwelliges Bedrohungsbewusstsein. Dass man nicht so leichtsinnig wird, dass man anfängt, sich für unverwundbar zu halten. Natürlich, das erste Mal an der Front war ich in Mossul, da war auf jeden Fall Angst dabei. Inzwischen setzt aber eine gewisse Gewöhnung ein, es ist nicht so wie beim ersten Mal. Trotzdem bleibt eine Anspannung, die dabei hilft, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Da hatten wir jetzt einmal so eine Situation in der Ukraine. Wir waren mehrere Tage in Bachmut und haben dann gemerkt, dass die russische Armee massiv mit den Bombardierungen angezogen hat. Nachdem es richtig heftig wurde, sind wir da rausgegangen, hatten aber zwei Tage später die Gelegenheit, mit Freiwilligen einer NGO mitzufahren, die Leute evakuieren wollten. Ich hatte am Ende absolut kein gutes Gefühl dabei und hatte dann sozusagen den Mut zur Feigheit. Die Bilder waren die Gefahr nicht wert. Danach haben wir erfahren, dass deren Konvoi gezielt beschossen wurde. Es gab einen Toten und mehrere Verletzte. Wenn wir mitgefahren wären, ist es fraglich, ob wir jetzt noch hier wären.

Gab es denn auch mal eine Situation, in der auch für Sie selbst akute Lebensgefahr bestanden hat?

Absolut. Wir hatten einen ukrainischen Sanitäter kennengelernt. Der wollte uns mitnehmen, wenn er sich als Erstversorger um die verwundeten Soldaten kümmert. Dafür hätten wir über eine Straße gemusst, die auch beschossen wird, relativ nah an der Frontlinie. Er hat am Treffpunkt auf uns gewartet, wir waren schon ein bisschen spät dran. Kurz bevor wir zu ihm fahren wollten, hat ein anderer Soldat mit unserem Fahrer geredet, es ging um TikTok oder sowas. Als wir dann endlich losgefahren sind, sehen wir an der Straße ein Militärauto stehen und Soldaten. Einer sitzt am Auto angelehnt auf dem Boden, ein anderer liegt davor. Wir riechen noch den Geruch von Schwarzpulver oder Sprengstoff. Dann haben wir realisiert, da wurde gerade ein Auto beschossen, direkt vor uns. Wir als Zivilisten sind sofort weitergefahren, der Sanitäter hat natürlich angehalten und irgendwie versucht, sie zu verarzten. Im Nachhinein hat uns der Sanitäter erzählt, dass es drei Minuten, bevor wir an dieser Stelle mit dem Auto waren, einen Einschlag gab. Und das waren wahrscheinlich die Minuten, die wir Gott sei Dank zu spät abgefahren sind – wegen unserem Fahrer und irgendeinem Soldaten, der ein TikTok zeigen wollte.

Dem Soldaten und dem Fahrer sei Dank! Wie ist denn Ihre persönliche Beziehung zu diesen Menschen, die Sie in Kriegsgebieten treffen?

Es kann völlig unterschiedlich sein. Es gibt Leute, die unfassbar lieb und nett sind, und dann trifft man aber Leute, die einem überhaupt nicht sympathisch sind. Aber das ist einfach die menschliche Bandbreite, das gehört dazu. Bei manchen Protagonisten weiß man auch, dass sie unfassbar Schlimmes getan haben. Ich hatte mal ein Interview mit einem IS-Terroristen, der sehr viel geleugnet hat. Er hat zum Beispiel gesagt, das sei kein Völkermord an den Jesiden gewesen, sondern Krieg, und Sklaverei wäre auch in Ordnung. Und dann ein, zwei Tage später führt man ein Interview mit einer jesidischen Frau, die von solchen Leuten versklavt und vergewaltigt wurde. Da muss man natürlich versuchen, komplett neutral an die Sache ranzugehen. Egal, wen du triffst, es ist immer irgendwie ein Mensch, egal, was er gemacht hat. Menschen sind zu allem fähig, jeder von uns. Wenn mein Leben anders gelaufen wäre, könnte ich jetzt da sitzen und hätte vielleicht mitgemacht. Wir Deutschen können uns auch immer in Erinnerung rufen, was unsere Urgroßeltern getan haben.

Die aktuelle Folge von „Crisis – Hinter der Front“ zur Ukraine könnt ihr hier ansehen. Alle Videos und weitere Infos findet ihr hier.

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