Ich
Sagte er
Erinnere mich nicht mehr so genau
Aber je älter ich werde
Desto kürzer werden die Jahre
Die Monate Wochen und Tage
Das darf ja nicht wahr sein
Ein Tag mehr ist ein Tag weniger
Hast du immer gesagt
Jaja sagte er und
Alle Tage ist kein Sonntag
War das Lieblingslied meiner Mutter
Als ich 25 auf die Welt kam
Mein kleines Moers
Sagte er
Es ist noch da
Sagte ich
Und dein altes Mainz auch
Wo ich mein erstes eigenes Programm spielte
Sagte er
48 in der Johannes-Gutenberg-Universität
Die dich später zum Ehrenbürger machte
Sagte ich
Ja sagte er
Auf den Trümmern gediehen gut Träume
Spielten wir absurdes Theater im Haus am Dom
Und ab 56 mit deiner arche nova
Kabarettistisch-literarische Expeditionen
Sagte ich
Auf Tournee
Sagte er
Und zu Hause in Weisenau war alles von Windeln verweht
Wenn die große Frieda mit der kleinen Frieda und mir
im Einzimmer-Vorortparadies Rheinisch Mensch ärgere dich nicht spielte
Wir lebten immer von meiner Phantasie
Sagte er
Du hast früh schon Funk gemacht
Sagte ich
Und warst in den Sechzigern als einer der ersten
Für das ZDF zu schrägen Reisebetrachtungen in aller Welt unterwegs
Und später synchronisiertest du die berühmten Väter der Klamotte
Ja sagte er
Ich tingelte durch die Lande
Als wir alle Freundschaft schlossen damals
Mit den Liedermachern Schobert und Black aus Berlin
Und den Unterhäuslern aus Mainz
Dort hab ich dein Programm gesehen
EINE SCHÖNE GESELLSCHAFT
69
Fünf Mal hintereinander
Und dann mein Jura-Studium begonnen
Wegen des Programms?
Auch
Sagte ich
Denn bald darauf machte ich meinen ersten Abschluss für dich
Und hinter den Kulissen die Technik für ENTHAUPTUNGEN
Und später beim SPEKTAKEL mit über dreißig Laiendarstellern
Das war aber erst 72
Jaja sagte er
Aber zwischendurch sind wir vorübergehend umgesiedelt
Ich privat und beruflich in die Schweiz
Und du nach Berlin an die FU
73 begann unsere THOMAS BERNHARD-Phase
Sagte ich
Wir sagten nicht mehr Guten Morgen
Wir sagten Morgen Augsburg
Jaja sagte er
Das war der berühmt gewordene Ausruf des Zirkusdirektors
In Bernhards Stück DIE MACHT DER GEWOHNHEIT
Wir haben die Stücke und die Prosa von Bernhard
Wie Drogen eingenommen
Begeistert weltverloren
Wussten wir oft gar nicht mehr wo wir waren
Und das war eigentlich auch wohl der Grund
Von nun an enger zusammenzuarbeiten
Künstlerisch und organisatorisch
Du hast ja dann noch alles Mögliche studiert
Warst aber meistens mit mir auf Tournee
Mit PRIVATISSIME zum Beispiel
Auch 75 und 76
In den Jahren in denen wir viel durch Österreich
Und die Schweiz zogen und versucht haben
Thomas Bernhard auf seinem Vierkanthof zu besuchen
Der war aber nicht da oder hat nicht aufgemacht
Dafür lief dir Willy Brandt auf Gozo über den Weg
Jaja sagte ich und 77 machte ich mein zweites Staatsexamen
Und wir hatten in Zürich eine tolle Vernissage mit deinen
STORY-ART-Bildern
Und dann hast du in der Schweiz deinen
SISYPHOS CIRCUS realisiert
Jaja sagte er
Leider nur für eine Spielzeit
Ich wollte nach Mainz Zurück zur Frieda
Neustart sagte ich Auch bei mir
Tourneen Projekte Produktionen
Wir tourten mit deinem Solokabarett durch
Hollands Universitätsstädte
Und du warst zwischendurch mit Barney Kessel
Herb Ellis und Charlie Byrd unterwegs
In ganz Europa als Tourneeleiter bei der Karsten Jahnke Konzertdirektion
Mit dem großen Gerry Mulligan zu einer Jazz-Gala
Jaja sagte ich
Aber dann haben wir die Neunzig-Tage-Tournee
Geplant und gespielt
Mit deinem Jubiläumsprogramm: SEIT 48
Jaja und dann sagte er
Hast du noch eine Sechs-Wochen-Tournee mit
Klaus Hoffmann gemacht
Jaja und dann habe ich 79 bei der Stadt als Jurist angefangen
Leider war es mit dem Tourneeleben von da an vorbei
DAS NEUE PROGRAMM ging ab 80 mit großem Erfolg
Über die Bühnen und die Termine verdichteten sich
Allerdings sagte er und du wurdest Teilzeitjurist
Und dann haben wir HAGENBUCH auf Reisen geschickt
Zusammen mit der Bernd Reichow Jazz Formation
HAGENBUCH UND DIE MUSIK hieß die erste Produktion
Und die zweite DER FALL HAGENBUCH
84 kam mein Sohn auf die Welt sagte ich
Und 85 starb meine Frau sagte er
Mein Programm hieß damals
UND SIE BEWEGT MICH DOCH
Und war wohl meine beste Arbeit
Ja sagte ich und dann sagte ich
Kamen große Auftritte bei den Kirchentagen
Du warst mit dem WDR in Warschau und spieltest den
Narren in WAS IHR WOLLT am Staatstheater Darmstadt
86 trugen wir in Rheinland-Pfalz die Kultur aufs Land:
DASS DIE ERDE HEIMAT WIRD FÜR ALLE WELT
Und mit Elmar Tophoven hast du unseren Auftritt in Paris vorbereitet
Sagte er
Wir spielten ausverkauft im Grand Théatre de la Cité
Internationale Universitaire de Paris
Aßen Austern am Montparnasse in der CLOSERIE DES LILAS
Wo Top mit Beckett frühstückte und Luis Bunuel
Sich ganz viel früher schon mit seinem Surrealistenclub traf
Danach wurde mir schlecht sagte er
Die Austern dachten wir zuerst
Es war aber die Galle
Und 88 nahm ich ABSCHIED VON EINER STADT
Im ZDF und in Wirklichkeit
Wechselte den Dom und ging nach Köln
Um eine neue Geschichte anzufangen
89 im Jahr der Veränderungen wurdest du
Leiter des Deutschen Kabarettarchivs
Wir feierten in Berlin Richtfest für ein europäisches Haus
Und in der Paris Bar Willy Brandts Geburtstag
Am Tisch mit Lew Kopelew George Tabori Walter Janka
Elisabeth Trissenar Grass und Co.
Danach Sodbrennen bei Kempinski
Guten Morgen
90 haben wir meinen fünfundsechzigsten Geburtstag
Mit Tanz und Gloria in der Wolkenburg in Köln begangen
Sechshundert Gäste: Italienische Nacht
Du hast organisiert und dramaturgisiert und inszeniert
Und alle sind gekommen und bis morgens halbzehn geblieben
Und mein Buch DU KOMMST AUCH DRIN VOR wurde ein Bestseller
Ja so war es sagte ich
Und kurz zuvor hatte ich
FEINE KOMÖDIEN – FEINE TRAGÖDIEN geschrieben
Das mit großem Erfolg wohl in jedem Jahr
An die zweihundertfünfzig Mal gespielt wurde
Und zwischendurch waren wir mit den Heidelberger Sinfonikern
unterwegs
HÜSCH, MOZART UND DAS ALPHABET
Vierzig Tage Deutschland Schweiz Liechtenstein
Übrigens habe ich 91 wieder geheiratet Meine Christiane
Folgerichtig schriebst du EIN NEUES KAPITEL
94 feierten wir unsere Silberne Spielzeit
Blinzelten dazu auf Langeoog in die Sonne
95 brachte die ARD zu deinem Siebzigsten ein Portrait
Und der Tourneeplan platzte aus allen Nähten sagte ich
96 spielten wir KABARETTISTISCHE MEISTERSTÜCKE
HÜSCH trifft HOHLER
Ja sagte er
Und wir gründeten zusammen eine GmbH
Die anderen auf die Karrierebeine geholfen hat
Spielten MEINE GESCHICHTEN und SACH MA NIX
Ja sagte ich und 97 hab ich wieder geheiratet
Und wir feierten auf einem weißen Schiff
Du wechseltest zum Blessing Verlag bei Bertelsmann
Und ich durfte deine Werkbiografie herausgeben:
50 Bühnenjahre: KABARETT AUF EIGENE FAUST
Auf den Buchrücken schrieben wir:
ENTSCHEIDEND IST DAS 51. GUTEN MORGEN! Ja sagte er verdammt
Auf Hiddensee wo wir uns die Klinke in die Hand gaben
Erreichte mich mitten in den Ferien dein Anruf mit dieser schrecklichen Nachricht
98 in meinem 51. Bühnenjahr sagte er
Ja sagte ich
Aber schon 99 tourtest du trotz allem
Kreuz und quer durch die Lande und wir feierten noch ein paarmal
SUMMERTIME AM NIEDERRHEIN
Währenddessen du die dicke CD produziert hast
Für das Gutenbergjahr der Mainzer
Mit vielen Texten von mir sagte er
ACH WIE LIEB ICH DIESE STADT sprach aber Jockel Fuchs
Und mein ältester Freund Rudolf Jürgen Bartsch rezitierte
Das berühmte Zuckmayer-Zitat von der Volkermühle Rhein
Ja sagte ich
Sieben Orchester sechsundzwanzig Solisten
Vierzig Titel vier Monate Arbeit
Gezeitenwechsel
Im Dezember 2000 nahmen wir
Tourneeabschied in Moers
Der Bundespräsident kam und sprach
Ja sagte er Johannes VERSÖHNEN STATT SPALTEN
War mir immer nah
Und im Januar 2001 feierten wir 100 JAHRE KABARETT
Mit viel Tamtam und einem Mammut-Programm in der
Akademie der Künste Berlin
Fast alle hattest du zusammen trommeln können
Ja sagte ich
Und wie früher wolltest du von da an noch einmal Von mir gefahren werden
Denn noch zweimal im Monat sollten Auftritte folgen
Unter dem Titel DA CAPO sogar noch ein letztes Programm
Aber wir kamen nicht weit Nach jenem Samstagabend im Oktober in Burscheid
Brachte ich die Tourneeorgel ins Archiv
Da steht sie jetzt neben deinem Mantel in einer Galerie von Erinnerungen sagte ich
Ich
Sagte er
Erinnere mich nicht mehr Aber ich erinnere an dich So wie jetzt zu deinem 100. Geburtstag
Sagte ich
Vielleicht stimmt es ja wirklich und
WIR SEHEN UNS WIEDER
Wie du einst geschrieben hast
Vielleicht an einer roten Bar mit neuen Geschichten
Erroll Garner spielt uns ein Ständchen
Und irgendwo zwischen Himmel und Erde
Sind wir wieder auf Tournee.
Zum Autor
Gastautor Jürgen Kessler schloss 1969 den ersten Auftrittsvertrag für Hanns Dieter Hüsch ab, diente über Jahre als Fahrer und Wegbegleiter, wurde zum vertrauten, wetterfesten Freund und hatte bis Tourneeschluss 2002 sein Management inne. Im Karl Blessing-Verlag (Bertelsmann) gab er die gültige Werkbiografie Hüschs heraus: Kabarett auf eigene Faust.