Zum hundertsten Geburtstag von Hanns Dieter Hüsch – ein Dialog zwischen Himmel und Erde

Der Mainzer Kabarettist Hanns Dieter Hüsch wäre am 6. Mai 100 Jahre alt geworden. In einem Gastbeitrag würdigt sein früherer Manager und Wegbegleiter Jürgen Kessler den wohl bedeutendsten literarischen Kabarettisten Deutschlands.

Zum hundertsten Geburtstag von Hanns Dieter Hüsch – ein Dialog zwischen Himmel und Erde

Ich

Sagte er

Erinnere mich nicht mehr so genau

Aber je älter ich werde

Desto kürzer werden die Jahre

Die Monate Wochen und Tage

Das darf ja nicht wahr sein

Ein Tag mehr ist ein Tag weniger

Hast du immer gesagt

Jaja sagte er und

Alle Tage ist kein Sonntag

War das Lieblingslied meiner Mutter

Als ich 25 auf die Welt kam

Mein kleines Moers

Sagte er

Es ist noch da

Sagte ich

Und dein altes Mainz auch

Wo ich mein erstes eigenes Programm spielte

Sagte er

48 in der Johannes-Gutenberg-Universität

Die dich später zum Ehrenbürger machte

Sagte ich

Ja sagte er

Auf den Trümmern gediehen gut Träume

Spielten wir absurdes Theater im Haus am Dom

Und ab 56 mit deiner arche nova

Kabarettistisch-literarische Expeditionen

Sagte ich

Auf Tournee

Sagte er

Und zu Hause in Weisenau war alles von Windeln verweht

Wenn die große Frieda mit der kleinen Frieda und mir

im Einzimmer-Vorortparadies Rheinisch Mensch ärgere dich nicht spielte

Wir lebten immer von meiner Phantasie

Sagte er

Du hast früh schon Funk gemacht

Sagte ich

Und warst in den Sechzigern als einer der ersten

Für das ZDF zu schrägen Reisebetrachtungen in aller Welt unterwegs

Und später synchronisiertest du die berühmten Väter der Klamotte

Ja sagte er

Ich tingelte durch die Lande

Als wir alle Freundschaft schlossen damals

Mit den Liedermachern Schobert und Black aus Berlin

Und den Unterhäuslern aus Mainz

Dort hab ich dein Programm gesehen

EINE SCHÖNE GESELLSCHAFT

69

Fünf Mal hintereinander

Und dann mein Jura-Studium begonnen

Wegen des Programms?

Auch

Sagte ich

Denn bald darauf machte ich meinen ersten Abschluss für dich

Und hinter den Kulissen die Technik für ENTHAUPTUNGEN

Und später beim SPEKTAKEL mit über dreißig Laiendarstellern

Das war aber erst 72

Jaja sagte er

Aber zwischendurch sind wir vorübergehend umgesiedelt

Ich privat und beruflich in die Schweiz

Und du nach Berlin an die FU

73 begann unsere THOMAS BERNHARD-Phase

Sagte ich

Wir sagten nicht mehr Guten Morgen

Wir sagten Morgen Augsburg

Jaja sagte er

Das war der berühmt gewordene Ausruf des Zirkusdirektors

In Bernhards Stück DIE MACHT DER GEWOHNHEIT

Wir haben die Stücke und die Prosa von Bernhard

Wie Drogen eingenommen

Begeistert weltverloren

Wussten wir oft gar nicht mehr wo wir waren

Und das war eigentlich auch wohl der Grund

Von nun an enger zusammenzuarbeiten

Künstlerisch und organisatorisch

Du hast ja dann noch alles Mögliche studiert

Warst aber meistens mit mir auf Tournee

Mit PRIVATISSIME zum Beispiel

Auch 75 und 76

In den Jahren in denen wir viel durch Österreich

Und die Schweiz zogen und versucht haben

Thomas Bernhard auf seinem Vierkanthof zu besuchen

Der war aber nicht da oder hat nicht aufgemacht

Dafür lief dir Willy Brandt auf Gozo über den Weg

Jaja sagte ich und 77 machte ich mein zweites Staatsexamen

Und wir hatten in Zürich eine tolle Vernissage mit deinen

STORY-ART-Bildern

Und dann hast du in der Schweiz deinen

SISYPHOS CIRCUS realisiert

Jaja sagte er

Leider nur für eine Spielzeit

Ich wollte nach Mainz Zurück zur Frieda

Neustart sagte ich Auch bei mir

Tourneen Projekte Produktionen

Wir tourten mit deinem Solokabarett durch

Hollands Universitätsstädte

Und du warst zwischendurch mit Barney Kessel

Herb Ellis und Charlie Byrd unterwegs

In ganz Europa als Tourneeleiter bei der Karsten Jahnke Konzertdirektion

Mit dem großen Gerry Mulligan zu einer Jazz-Gala

Jaja sagte ich

Aber dann haben wir die Neunzig-Tage-Tournee

Geplant und gespielt

Mit deinem Jubiläumsprogramm: SEIT 48

Jaja und dann sagte er

Hast du noch eine Sechs-Wochen-Tournee mit

Klaus Hoffmann gemacht

Jaja und dann habe ich 79 bei der Stadt als Jurist angefangen

Leider war es mit dem Tourneeleben von da an vorbei

DAS NEUE PROGRAMM ging ab 80 mit großem Erfolg

Über die Bühnen und die Termine verdichteten sich

Allerdings sagte er und du wurdest Teilzeitjurist

Und dann haben wir HAGENBUCH auf Reisen geschickt

Zusammen mit der Bernd Reichow Jazz Formation

HAGENBUCH UND DIE MUSIK hieß die erste Produktion

Und die zweite DER FALL HAGENBUCH

84 kam mein Sohn auf die Welt sagte ich

Und 85 starb meine Frau sagte er

Mein Programm hieß damals

UND SIE BEWEGT MICH DOCH

Und war wohl meine beste Arbeit

Ja sagte ich und dann sagte ich

Kamen große Auftritte bei den Kirchentagen

Du warst mit dem WDR in Warschau und spieltest den

Narren in WAS IHR WOLLT am Staatstheater Darmstadt

86 trugen wir in Rheinland-Pfalz die Kultur aufs Land:

DASS DIE ERDE HEIMAT WIRD FÜR ALLE WELT

Und mit Elmar Tophoven hast du unseren Auftritt in Paris vorbereitet

Sagte er

Wir spielten ausverkauft im Grand Théatre de la Cité

Internationale Universitaire de Paris

Aßen Austern am Montparnasse in der CLOSERIE DES LILAS

Wo Top mit Beckett frühstückte und Luis Bunuel

Sich ganz viel früher schon mit seinem Surrealistenclub traf

Danach wurde mir schlecht sagte er

Die Austern dachten wir zuerst

Es war aber die Galle

Und 88 nahm ich ABSCHIED VON EINER STADT

Im ZDF und in Wirklichkeit

Wechselte den Dom und ging nach Köln

Um eine neue Geschichte anzufangen

89 im Jahr der Veränderungen wurdest du

Leiter des Deutschen Kabarettarchivs

Wir feierten in Berlin Richtfest für ein europäisches Haus

Und in der Paris Bar Willy Brandts Geburtstag

Am Tisch mit Lew Kopelew George Tabori Walter Janka

Elisabeth Trissenar Grass und Co.

Danach Sodbrennen bei Kempinski

Guten Morgen

90 haben wir meinen fünfundsechzigsten Geburtstag

Mit Tanz und Gloria in der Wolkenburg in Köln begangen

Sechshundert Gäste: Italienische Nacht

Du hast organisiert und dramaturgisiert und inszeniert

Und alle sind gekommen und bis morgens halbzehn geblieben

Und mein Buch DU KOMMST AUCH DRIN VOR wurde ein Bestseller

Ja so war es sagte ich

Und kurz zuvor hatte ich

FEINE KOMÖDIEN – FEINE TRAGÖDIEN geschrieben

Das mit großem Erfolg wohl in jedem Jahr

An die zweihundertfünfzig Mal gespielt wurde

Und zwischendurch waren wir mit den Heidelberger Sinfonikern

unterwegs

HÜSCH, MOZART UND DAS ALPHABET

Vierzig Tage Deutschland Schweiz Liechtenstein

Übrigens habe ich 91 wieder geheiratet Meine Christiane

Folgerichtig schriebst du EIN NEUES KAPITEL

94 feierten wir unsere Silberne Spielzeit

Blinzelten dazu auf Langeoog in die Sonne

95 brachte die ARD zu deinem Siebzigsten ein Portrait

Und der Tourneeplan platzte aus allen Nähten sagte ich

96 spielten wir KABARETTISTISCHE MEISTERSTÜCKE

HÜSCH trifft HOHLER

Ja sagte er

Und wir gründeten zusammen eine GmbH

Die anderen auf die Karrierebeine geholfen hat

Spielten MEINE GESCHICHTEN und SACH MA NIX

Ja sagte ich und 97 hab ich wieder geheiratet

Und wir feierten auf einem weißen Schiff

Du wechseltest zum Blessing Verlag bei Bertelsmann

Und ich durfte deine Werkbiografie herausgeben:

50 Bühnenjahre: KABARETT AUF EIGENE FAUST

Auf den Buchrücken schrieben wir:

ENTSCHEIDEND IST DAS 51. GUTEN MORGEN! Ja sagte er verdammt

Auf Hiddensee wo wir uns die Klinke in die Hand gaben

Erreichte mich mitten in den Ferien dein Anruf mit dieser schrecklichen Nachricht

98 in meinem 51. Bühnenjahr sagte er

Ja sagte ich

Aber schon 99 tourtest du trotz allem

Kreuz und quer durch die Lande und wir feierten noch ein paarmal

SUMMERTIME AM NIEDERRHEIN

Währenddessen du die dicke CD produziert hast

Für das Gutenbergjahr der Mainzer

Mit vielen Texten von mir sagte er

ACH WIE LIEB ICH DIESE STADT sprach aber Jockel Fuchs

Und mein ältester Freund Rudolf Jürgen Bartsch rezitierte

Das berühmte Zuckmayer-Zitat von der Volkermühle Rhein

Ja sagte ich

Sieben Orchester sechsundzwanzig Solisten

Vierzig Titel vier Monate Arbeit

Gezeitenwechsel

Im Dezember 2000 nahmen wir

Tourneeabschied in Moers

Der Bundespräsident kam und sprach

Ja sagte er Johannes VERSÖHNEN STATT SPALTEN

War mir immer nah

Und im Januar 2001 feierten wir 100 JAHRE KABARETT

Mit viel Tamtam und einem Mammut-Programm in der

Akademie der Künste Berlin

Fast alle hattest du zusammen trommeln können

Ja sagte ich

Und wie früher wolltest du von da an noch einmal Von mir gefahren werden

Denn noch zweimal im Monat sollten Auftritte folgen

Unter dem Titel DA CAPO sogar noch ein letztes Programm

Aber wir kamen nicht weit Nach jenem Samstagabend im Oktober in Burscheid

Brachte ich die Tourneeorgel ins Archiv

Da steht sie jetzt neben deinem Mantel in einer Galerie von Erinnerungen sagte ich

Ich

Sagte er

Erinnere mich nicht mehr Aber ich erinnere an dich So wie jetzt zu deinem 100. Geburtstag

Sagte ich

Vielleicht stimmt es ja wirklich und

WIR SEHEN UNS WIEDER

Wie du einst geschrieben hast

Vielleicht an einer roten Bar mit neuen Geschichten

Erroll Garner spielt uns ein Ständchen

Und irgendwo zwischen Himmel und Erde

Sind wir wieder auf Tournee.

Zum Autor

Gastautor Jürgen Kessler schloss 1969 den ersten Auftrittsvertrag für Hanns Dieter Hüsch ab, diente über Jahre als Fahrer und Wegbegleiter, wurde zum vertrauten, wetterfesten Freund und hatte bis Tourneeschluss 2002 sein Management inne. Im Karl Blessing-Verlag (Bertelsmann) gab er die gültige Werkbiografie Hüschs heraus: Kabarett auf eigene Faust.