Wir waren schon mal weiter

Gastautor Jürgen Kessler über eine Begegnung in Badehose mit dem Altkanzler Willy Brandt.

Wir waren schon mal weiter

Turbulenzen plagen unseren Planeten, nicht nur Sonnenstürme und Vulkanausbrüche stören die Balance, es sind Machtidiotien, katastrophale Kriege, fanatische Rasereien, die einmal mehr den Eindruck erwecken, der Menschheit fehle es an artgerechter Vernunft, sie scheitere an ihrer Unmenschlichkeit. An allen Tagen erleben wir Täuschung und Rechtsbruch, brutale Alltagsgewalt und Dreistigkeit – vor allem auf der MS Deutschland, sie scheint aus dem Ruder zu laufen. Was vermisst man in derart stürmischen Zeiten auf der Kommandobrücke eines Dampfers mehr, als das Gegenteil von Unverstand und Panik, nämlich Kompetenz und Erfahrung, Navigation mit Weitblick, Mut für das Machbare, und, selbstverständlich, die Ruhe eines zweifelsfreien Charakters am Ruder, die Zuverlässigkeit eines Kapitäns, der Respekt und Anerkennung genießt?

Einem glücklichen Zufall verdanke ich, einen Menschen dieser Art und Güte persönlich kennengelernt zu haben. Kurz, aber einprägsam. Seiner in der Adventszeit zu gedenken, liegt nicht nur wegen des (runden) Geburtstags nahe: vor hundertzehn Jahren kam er am 18. Dezember in Lübeck auf die Welt. Es liegt vor allem nahe, weil der Kurs dieses Mannes viele Menschen im verwirrten, geschundenen, geteilten deutschen Heimatland bewegt und beeinflusst hat, teils ihren Werdegang berührte, auch jenen des jungen Mannes, der ich damals war. Davon habe ich in meinem (vergriffenen) Buch „Über den Klippen. Als ich Willy Brandt einmal zu Bett brachte“ auf siebzig Seiten anekdotisch erzählt. Was zu diesem heiteren Bettgang führte, begann in der Mainzer Kneipe „Zur Andau“. Zwei einander unbekannte Gäste entdeckten am Tresen Gemeinsamkeiten, hielten es nach dem zweiten Glas Wein für angeraten, Abstand von ihren strapaziösen Freundinnen zu nehmen, und verabredeten sich (nach dem dritten), am nächsten Abend den Nachtzug gen Süden zu nehmen. Nach einem Aufenthalt im vorösterlichen Roma sollte es weitergehen nach Kalabrien, per Schiff nach Valletta, dann mit einem Mietwagen kreuz und quer über Malta und schließlich hinüber auf die Nachbarinsel Gozo.

In Badehose beim Altkanzler

Wir entdeckten die spannende Historie und frühlingsbunte Schönheit einer Insellandschaft im zentralen Mittelmeer. Fast schon am Ende unserer kulturellen und selbsttherapeutischen Expedition, machten wir unter ausgefallenen Umständen Bekanntschaft mit dem weltberühmten Parteichef der SPD, der zum Hoffnungsträger so vieler junger Deutscher geworden war. Begeistert verlängerten wir den Aufenthalt um vier Tage, ließen die Bahntickets verfallen und buchten stattdessen einen Rückflug. Zurück in der „Andau“, standen wir verloren herum, hüteten das Erlebte wie ein kostbares Geheimnis, bis es sich im Abklingbecken des Alltags auflöste. Reisefreund ‚Manfredo‘ hatte jede Menge Fotos gemacht, einige davon bebildern das Erinnerungs-Büchlein; wer mehr erfahren will, kann im „Antiquariat am Fischtor“ eventuell fündig werden. Am vorletzten Tag, in flirrender Morgensonne, liefen wir in Badehosen durch den Garten zum Pool, noch beschwingt vom Nachhall des Weines beim Privatissime mit unserem Ex-Kanzler am Vorabend. Plötzlich hielten wir inne. Wenige Schritte vor uns, auf einer Gartenmauer aus Feldsteinen, weilte der damals dreiundsechzigjährige Politiker. Super, flüsterte ich, wollen wir uns nochmal bei ihm bedanken? Mein um sechzehn Jahre älterer Gefährte zögerte beim Anblick des in sich ruhenden Mannes: Lieber nicht, er sitzt da wie sein eigenes Denkmal. Es stimmte, Willy Brandt saß so in sich gekehrt, wie ein Mensch nur sein kann. Soll man da stören? Und dann noch in diesem Aufzug? Ich fasste mir trotzdem ein Herz und trat heran. Na, schon auf den Beinen? Freundlich erwiderte er meinen Gruß. Nun rückte auch „Halunke“ (so Brandt) Manfred auf und machte Fotos, was uns rasch albern und störend vorkam.

Angemessen zu würdigen, was sein politisches Wirken ausmachte, führe an dieser Stelle zu weit, man mag es in (seinen) Büchern und Publikationen oder im Internet nachlesen. Aber mit einigen Gedanken möchte ich beitragen. In einer an Vorbildern armen Zeit, bot Brandt uns Jungen einen Halt. Seit dem Kniefall in Warschau fühlte ich mich wohler im Land meiner Väter. Ein Jahrhundertbild, das am 7. Dezember 1970 um die Welt ging. Erst jüngst fand ich zu dieser Geste Brandts bei Heinrich Heine einen erhellenden Satz: „Wer mit den wenigsten und einfachsten Symbolen das Meiste und das Bedeutendste ausspricht, der ist der größte Künstler.“ Willy Brandt, der mir im Unterschied zu fast allen anderen Politikern persönlich niemals doppelbödig oder hinterhältig erschien, verstand und beherrschte die hohe Kunst der Politik. Wie John F. Kennedy. Nie wieder habe ich im Weltgeschehen wegen einzelner Führungspersonen größere Wehmut empfunden, als bei der Ermordung des einen und dem Scheitern des anderen; beide, weiß man, erlagen ausgemachten Rankünen. Brückenbauer Brandt erlebte, von Kanzler Kohl geehrt und in der gesamtdeutschen Gesellschaft hoch geachtet, den Mauerfall: ein politisches, ein persönliches Glück. Dass er Berlin Bonn als Regierungssitz vorzog, war für ihn selbstverständlich; wie er die Hauptstadt heute sähe, lassen wir dahingestellt sein.

Sein Leben trug heldenhafte Züge. Die bescheidene Herkunft, der Kampf gegen Hitler, die Flucht nach Norwegen, die Liebe im erzwungenen Exil, dafür die Herabwürdigungen des politischen Gegners später; dann Regierender Bürgermeister, Checkpoint Charlie und der US-Präsident in der Frontstadt, Whiskey und Kultur, Nähe zu Intellektuellen, Niederlagen bei Wahlen, der Aufstieg, mehr Demokratie wagen, Anerkennung der Realität, kleine Schritte statt große Sprünge, Wandel durch Annäherung, und, große Freude, am 10. Dezember 1971 der Friedensnobelpreis! Doch auch: Angriff, Missgunst und Verrat: Spion Guillaume und die eigenen Genossen. Der Rücktritt als Kanzler. Neue Autorität auf der Weltbühne: als ausgleichender Grundsatzpolitiker, nicht als sozialistischer Ideologe. Und, zu schlechter Letzt, weil er eine gebildete attraktive Griechin, Ogottogott, zur Sprecherin des Parteivorstands machen wollte, sein Abtritt als Vorsitzender einer Partei, die längst mehr an ihren Karrieren orientiert war, als am Land, die sich im wohlstandsvergrünten Phantasiapark verlief und traditionelle Wählerschichten zunehmend vor den Kopf stieß. Willy Brandts Leben: ein dramatischer Stoff! Gemacht aus Kampf, Triumph und Verlust. Die ewige Tragik des einsamen Helden, besser: das Schicksal eines Mannes mit Herz, Hirn und aufrechtem Gang. Kein anderer kann eine solche Vita aufweisen, damals nicht, und heute erst recht nicht.

Eine kluge Frau sagte einmal…

Sein Vorgänger im Kanzleramt war ab 1933 Mitglied der NSDAP, von Beate Klarsfeld öffentlich dafür geohrfeigt worden, zu recht und symbolisch, denn die Ohrfeige galt ebenso all jenen, die einen Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum Kanzler der Bundesrepublik gemacht hatten; Klarsfelds Tat zeigte klatschend, wie Anspruch und Wirklichkeit der „BRD“ auseinanderfielen. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, aber aus dem Munde einer klugen Frau – war es Ingeborg Bachmann, Romy Schneider oder Senta Berger? – einen Satz wie den folgenden geschenkt zu bekommen, war gewiss mehr als nur ein wärmendes Kompliment im Wahlkampf für einen Mann, der zeit seines Lebens die Frauen verehrt hat: Ich wähle Willy – schon wegen seiner Vita, schon wegen seines Gesichts! Und tatsächlich spiegelte sich darin sein Leben wie ein Monument. Noch einmal Heinrich Heine: Er wurde einst gefragt, warum keine Kathedralen mehr gebaut werden. Als Antwort ist überliefert: „Die Menschen in jenen alten Zeiten hatten Überzeugungen, wir modernen haben nur Meinungen. Und es braucht mehr als eine bloße Meinung, um eine gotische Kathedrale zu errichten.“ Umzingelt von Meinungen war der Jahrhundertpolitiker Willy Brandt ein Mann mit Überzeugungen, Glaube und Wille. Seine Kathedrale war der Ausgleich zwischen Ost und West, Nord und Süd. Sein Glaube an die Chance der Versöhnung zweier Pole, nämlich Freiheit und Gerechtigkeit, schlug aus wie eine Kompassnadel. Seinem Willen und Wirken verdankte die Mitgliedschaft ihren Aufschwung zu einer Volkspartei mit internationaler Achtung. Dreimal großes B: Brandt (SPD), Bahr (SPD), Breschnew (KPdSU) – mit deren Entspannungspolitik fand seine Partei eine Zustimmung, die sie nie wieder in der Wählerschaft erreicht hat, auch unter seinem hervorragenden Nachfolger im Kanzleramt nicht.

Als selbst der analytisch-eloquente Helmut Schmidt der Unvernunft erlag und abtreten musste, begann die Partei vielerorts kognitiv immer mehr zu verflachen, Zweifel an ihrer Urteilsfähigkeit zu schüren, womit sie als Partei allerdings nicht alleine war. Die Mahnungen der Altvorderen wurden in den Wind geschlagen. Die Zeilen der dritten Strophe unserer Nationalhymne hatten noch einmal ihre anspruchsvolle Chance, sie wurde vertan. Im historischen Glück der Wiedervereinigung wäre es Pflicht gewesen, eine neue, gesamtstaatliche Verfassung zu beschließen, damit am Ende des Jahrhunderts menschlich und rechtlich sauber zusammenwachsen kann, was zusammen gehört, Brandts Worte. Doch das Land durfte mental nicht zu sich selber finden.

Der dominante, teils überhebliche Westteil, opferte den deutschen Hausverstand auf den Altären fremder Interessen und einer kühl rechnenden Betriebswirtschaft. Für viele Neubürger entpuppten sich die ‚westlichen Werte’ als dramatisches Missverständnis und Heuchelei. Den Fehlern folgte der allgemeine Verdruss. Oppositionelle Kritik erlebte Beschneidung der Meinungsfreiheit, aggressive Ausgrenzung und existenzbedrohende Verfolgung – wie in totalitären Staaten. Wer heute daran zweifelt, dass der demokratische Staat und seine Institutionen, Recht und Ordnung, freie und soziale Marktwirtschaft noch in guten Händen, das Volk der Souverän und die Würde des Menschen im ursprünglichen Sinne des Grundgesetzes unantastbar sei, sieht seine Skepsis in schrillen Parlamentsdebatten, fragwürdigen Gesetzen, in die Irre führenden Talk-Shows oder sogenannten Nachrichten seit langem bestätigt.

Die derzeit noch im Amt befindliche Regierung scheute weder vor der Ausplünderung der Kassen, noch vor veritablen Vertrags-, Gesetzes- und Verfassungsbrüchen zurück. Wen wundert es dann noch, wenn aktuell das Interesse an einer Partei schrumpft, die sich in schierer Rechts- und Realitätsferne mit ideologisch verkrustetem und überhaupt seltsamem Personal auf Abwege begeben hat? Aus Möchtegern wird eben kein Staatsmann, und wer seiner Nation zu dienen geschworen hat, verletzt ihre Normen nicht! So einfach ist das. Gäbe es ein Handbuch: „Große Politiker mit deutschem Hausverstand“, nähme Willy Brandt für mich fraglos den ersten Platz darin ein, gefolgt vom Klavierspieler Helmut Schmidt, auch ein Geburtstagskind des Monats Dezember; sie waren die Besten. Auf der Insel schnappten wir Bruchstücke der maltesischen Rede des Friedensnobelpreis-Trägers auf. Ein Satz blieb haften wie eine Gedichtzeile, die man für immer behält: Denk ich an Deutschland in der Nacht... Brandt sagte: „I am not unhappy to have been able to bring these two words together, namely peace and Germany.“ – Heute erfahren wir schmerzlich: Wir Deutsche waren schon einmal weiter.

Für Gastautor Jürgen Kessler hatte die Begebenheit auf Gozo Folgen, er beschloss, lieber kein Politiker zu werden.