„Liebe Regierung! Wollt ihr nicht langsam mal aufhören, Eure Wähler zu nerven? Mit Entscheidungen, die keiner mehr nachvollziehen kann? Der Unmut der Bevölkerung scheint Euch völlig kalt zu lassen. Jetzt werdet Ihr demnächst von der AfD überholt. Dann ist Euer Plan ja voll aufgegangen. Gratulation!“ – so Heiner Lauterbach vor kurzem auf Twitter.
Man darf gespannt sein, ob der Mann bei der Degeto Film GmbH (Gesellschafter sind die Einzelanstalten der ARD samt Werbetöchter) im Sinne der dort vorherrschenden Wokeness und Cancel Culture in Ungnade fällt. Dabei ist seine Botschaft an die Bundesregierung zurückhaltend und höflich, wohl um niemanden ‚bei Hofe‘ persönlich zu verletzten. Neben dem Spott des freiheitlich Denkenden, spürt man die staatsbürgerliche, von vielen derzeit geteilte Sorge eines professionellen Prominenten über eine wenig überzeugende, den Anforderungen ihrer Profession nicht gerecht werdende Staatsführung. Ich könnte an dieser Stelle nicht wörtlich wiedergeben, was mir an Klagen über die Qualität der amtierenden Regierung und ihrer Vorgänger schon zu Ohren kam, es wäre nicht ‚stubenrein‘.
Doch was bewirkt Unmut allein? Die Einforderung sattelfester Fachkunde, Lebens- und Berufserfahrung, also einem generell hohen Anforderungsprofil an einen Sitz im Bundestag, gilt in weiten Kreisen als moralischer Hochverrat und wird überheblich abgewehrt. Stattdessen stellt man sich, selbstzufrieden quotiert, von Parteilisten abgesichert, unter einen mehr direkte Demokratie scheuenden Überbau ideologischer und parteilicher Fügsamkeit. So liegen die Fehlentwicklungen eben nicht nur im Gefüge, sie liegen ebenso bei den Protagonisten; nicht nur die Strukturen, auch Menschen haben nachgelassen. Schlafmütziges Desinteresse und die Neigung unseres Landes zu einem abwegigen Verlauf seiner Geschichte hat wieder mal bewirkt, dass ‚die da oben’ machen können was sie wollen, und die unten alles aushalten, höchstens murren und knurren.
Das läuft bei unseren westlichen Nachbarn anders. Wenn es um ihre Errungenschaften geht, hauen die Franzosen regelmäßig auf die Torte, sind sie grundsätzlich aufmüpfig, jedenfalls seit 1789. 1989 erhob sich ein Teil der Deutschen gegen die Obrigkeit, schlug friedlich auf den Putz. Mit Köpfchen und historischer Fortüne ging es unblutig aus. Anders im französischen Königreich. Die Verhältnisse im Absolutismus brachten zuhauf anti-monarchische Galionsfiguren hervor. Sie betraten das weltgeschichtliche Spielfeld, das ein ernstes war und ein grauenvolles wurde, verkeilten sich wortmächtig, und endeten schließlich auf dem selbst errichteten Scheiterhaufen der Geschichte, einer wie der andere. Der damalige „Unmut der Bevölkerung“ mündete in einer viehischen Blutmühle, in einem Pogrom, das von Beginn an zur Hypothek für die Komposition der Trikolore wurde. Als im August 1792 die ersten Raub- und Blutwellen die Monarchie gestürzt, den Hof aufgelöst, die Adelspartei vernichtet und die königliche Familie in Gefangenschaft versetzt hatte, war die Macht nicht nur der Krone entzogen worden, sondern auch den gemäßigten Revolutionären. Tatsächlich lag sie in den gewalttätigen Händen der Sansculottes, des Straßenvolks der Pariser Unterwelt, sie hatten sich zum rücksichtslosen Erben der absoluten Macht gemacht: „Der neue Despot war die Furcht, der neue Tyrann hieß Terror!“ (nach Otto Zierer). ‚The Wind of Change‘ war damals im universellen Sinne unheilig.
Zwei Monate später, am 19. Oktober 1792, marschierten die Revolutionstruppen in Mainz ein. Im November pflanzten sie am ‚Höfchen‘ ihr Symbol auf: den Freiheitsbaum; ein großer Teil der Mainzer fand das ganz prima.
Einmal lag eine blasse Zeichnung auf meinem Schreibtisch, das Abbild jenes sogenannten Freiheitsbaumes, der mich immer an Kerwe-Beem (Kirmes-Bäume) auf den Dörfern erinnert. Ein ärmliches Bäumchen, einsam, nackt und nüchtern. Erkennbar eine Karikatur, also nah bei der Wirklichkeit. Ihr Urheber: Johann Jakob Ihlée. Ein aufgerichteter Stamm, oben ein paar struppige Zweige. Auf der Spitze ‚thronte’ mit angehefteter Kokarde die rote Jakobinermütze. Seitdem ist Rot die Farbe alles Linken, rot wie die aufgehende Sonne, blutrot. Emporgewachsen aus reichlich verdorrtem Grund, strebt die kahl geschlagene Stange der Sonne entgegen. Zwei der Triebe geköpft, nur der dritte kam durch. Er steht dürstend für die neuen Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sind sie so ideal? Hast du Gleichheit, gibt es keine Freiheit! Hast du Freiheit, gibt es keine Gleichheit! Einfache Gleichungen. Und welche Brüderlichkeit ist gemeint? Jene des Heiligen Sankt Martin, der zurecht als Vorbild der Barmherzigkeit auf dem namensgleichen Dom zu Mainz steht, symbolisch, wenn auch vom hohen Ross herab, mit einem Bedürftigen seinen Mantel teilt, den eigenen wohlgemerkt? Oder jene der sozialistischen Commune, die verteilt, was sie zuvor weggenommen hat? Eine Systemfrage, ich will sie nicht stellen, sie ist zu groß, es führte zu weit, aber wenn es so etwas wie eine geschichtliche Wehmut gibt, aus diesem kargen Bildchen lugt sie für mich hervor.
Im März 1793 wurde die ‚Mainzer Republik‘ ausgerufen, Georg Forster mit dabei, der berühmte Weltumsegler, Naturforscher, Universitätsbibliothekar und führende Mainzer Jakobiner; der Name geht auf den Sitzungsort der revolutionären Kräfte zurück, das Kloster Sankt Jakob bei Paris. Der 18. März markierte für Mainz ein mutiges Unterfangen: Abkehr vom Absolutismus! Ein großartiges Lebensgefühl – für alle die daran glaubten. Eine Endstation dieses Gefühls für alle, die daran glauben mussten! Kurfürst Joseph von Erthal hatte sich vorsorglich aus dem Staub gemacht. Er war wahrlich ein schlimmer Vertreter seines Standes. Die Einkesselung der Stadt ließ nicht lange auf sich warten, die gesegneten Kanonen der verbündeten Mächte der Aristokratie, vor allem aus Preußen und Österreich, wurden alsbald auf die arme Stadt gerichtet. Auch der Herr von Goethe, seinen Weimarer Landesherrn beim systemerhaltenden Feldzug begleitend, hatte sich den schaulustigen Zeitgenossen auf der rechten Rheinseite bei Weck, Worscht und Woi zugesellt; ihnen verdanken wir das Wort vom ‚Schlachtenbummler‘. Angesichts des eingekesselten und zügig zerstörten Mayence beschwor der Dichterfürst in nobler Gratis-Empathie die Größe der geschichtlichen Stunde, von ihr gehe eine neue Epoche aus. Und ganz frankfurterisch jubelte er hinzu: „Mir könne saache, mir sin dabei geweese.“
Wobei ist unsereins in diesen Tagen eigentlich? Ergreift uns kein Verdruss an den heutigen Zeitläuften? Spüren wir kein Unbehagen am frankophilen Teil unserer Stadtgeschichte? Vertreten die Regierungen unserer Epoche noch unsere Interessen? Oder machen sie uns in schlafwandlerischer Attitüde zu Schlachtenbummlern, am Ende zu Bauernopfern? Stehen die hehren Nachkriegs-Maxime ‚Nie wieder Krieg‘, ‚Nie wieder Faschismus‘, auf immer ‚Frieden in Freiheit‘, schon wieder vor dem Abgrund? Sind unsere republikanischen Ideale Demokratie und Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Eigentum, Zensur- und Meinungsfreiheit, innere und äußere Sicherheit, Bildung und chancengleicher Aufstieg überhaupt noch gewahrt und in treuen Händen? Oder kehren längst ganz andere Interessen rücksichtslos beiseite, was sich seit dem Einsatz des Grundgesetzes im großen Ganzen vorzüglich bewährt hat? Gefühlt tausend Mal wurde es von allen Seiten geknetet und meistens von links verändert. Aber kein Wind regt sich, nichts bewegt sich, und das deutsche Volk pflegt sich. Zurück zu Heiner Lauterbach: Sein Appell ist aller Ehren wert, nur würde ich dafürhalten: Das Problem ist nicht diese Partei, die er beim Namen nennt, das Problem sind wir, die Wähler, respektive die Wählerinnen. Es fehlt der Wille zu Wissen! Nicht zuletzt verbreitet zu wissen, was war, was ist, wer was für uns entscheidet und warum. Wir pflegen lieber unseren mentalen Eskapismus, der tiefer als uns lieb sein kann in unserer europäischen Vergangenheit verwurzelt ist.
Die ‚Mainzer Republik‘ endete abrupt. Wenn sie konnten, flohen die Jakobiner samt Sympathisanten. Die Kapitulation fand im 23. Juli 1793 schließlich ihr historisches Datum, vor exakt 230 Jahren – ein Wimpernschlag vor dem Herrn.
Wer dennoch am 14. Juli mit den Franzosen zu den Klängen ihrer Marseillaise jubeln, den heutigen Zuständen zum Trotz den Bruch eines Gefängnisses feiern will, mag das tun; die Geschichtsverklärung ist unerbittlich. Ich hingegen halte diese ‚Hymne‘ für ein blutrünstiges Flötenmonster und Marseille für eine afrikanisch-arabische Stadt am dramatischen Mittelmeer. Fröhliche Sommerferien!
Gastautor Jürgen Kessler lebte im Alter von sechs und sieben mit seinen Eltern in der Neuen Universitäts-Straße, in einem Teil jener Räume, die der Maler, Nibelungenschatz-Sucher, Musikus und Architekt Hans Jörg Jacobi später erwarb, bewohnte und – wie auch immer – als Wohnung Georg Forsters ausgemacht hatte. Seitdem erinnert eine Plakette am Haus Nummer 5 an den namhaftesten Jakobiner der ‚Mainzer Republik’.