Wie das „Quartier“ nach „Mayence“ kam

Wann wurde das Altstadtlokal „Quartier Mayence“ gegründet? Und wie kam es zu seinem Namen? Unser Gastautor Jürgen Kessler weiß es am besten.

Wie das „Quartier“ nach „Mayence“ kam

Im Oktober vor fünfundzwanzig Jahren trugen wir den Mann zu Grabe, mit dessen Spitzname sich das Debüt des „Quartier Mayence“ in der Mainzer Altstadt verbindet. Vor wenigen Monaten hatten sich die Pachtverhältnisse verändert, neue Besitzer des „Quartiers“ stellten sich der Öffentlichkeit vor; traditionell firmierten sie mit dem Hinweis auf die Gründung der Gaststätte, datierten diese auf das Jahr 1972. Anlass für mich, zu berichten, wie es überhaupt zu dem Szene-Lokal mit dem klangvollen Namen kam – und wann es tatsächlich (nicht) eröffnet wurde; der Rückblick führt zu der Pointe, dass Fans und Betreiber die Fünfzig-Jahr-Feier des „Quartiers“ noch vor sich haben.

Einladung ins Rathaus

Am Ende einer Kulturreise mit dem Erfinder des Mainzer Weinmarkts, Dr. Robert Schmidt (siehe Beitrag vom August), entstanden während der Fahrt durch Frankreich Idee und Projektname in meinem Kopf. Es war mir zudem gelungen, den frankophilen Senior als Fürsprecher des Vorhabens zu gewinnen; Ende Sommer 1973 brachte ich das Konzept zu Papier. Dr. Schmidt warf einen Blick darauf, gab Tipps, wann es am besten an den Mann zu bringen sei, und telefonierte bei passender Gelegenheit mit seinem Duz-Freund Jockel Fuchs, dem schillernden, über die Grenzen der Stadt hinaus populären Oberbürgermeister von Mainz. Im Spätjahr erhielt ich vom Sanierungs-Dezernent Altstadt eine Einladung ins neue Rathaus, als Protokollantin begleitete mich eine befreundete Schauspielerin. Mein Konzept fand in der Verwaltungsrunde wohlwollende Zustimmung. Mit zwei Jahren Vorlaufzeit im Sanierungsgebiet hätten wir zu rechnen, warnte der Beigeordnete Karl Delorme, man wolle sich aber Gedanken machen, ich bekäme Bescheid.

Wie kam es zu meinem Projekt? Im fünften Jahr regelmäßiger Mitarbeit im Forum-Theater Unterhaus, suchte ich nach einer Alternative für den Fall meines Scheiterns im Examen. Die Kleinkunstbühne warb mit dem Slogan: Unterhaus – unter der Erde, aber über dem Niveau! Vielen galt der Ort jedoch als Hort der Subkultur, stand im Verruf, eine rote Zelle subversiver Spinner zu sein; eine Anwältin aus dem Odenwald, deren Tochter die Kostüme für eine Theaterproduktion mitgestaltet hatte, gab dies mit detektivisch recherchiertem Belastungsmaterial in einem Gerichtsverfahren unter wüsten Behauptungen zu den Akten. Auch wegen der Revolte eines Teils des Laienensembles gegen die Unterhaus-Leitung, hatte sich das Vorurteil in der Stadt verbreitet; in Wirklichkeit war es unbegründet – es sei denn, man hätte der Verbundenheit des Theaters mit Willy Brandts SPD den Stempel des politischen Extremismus aufgedrückt. Der ungerechtfertigte Ruf hielt an bis Herbert Bonewitz 1975 mit seiner spektakulären Kabarett-Premiere „Ein Narr packt aus!“ quasi über Nacht „tout mayence“ ins Gewölbe lockte; dem Fastnachts-Star verdankte das Unterhaus viel, er zog das neugierige Bürgertum von Stadt und Land wie eine Lokomotive mit Volldampf in die Walpodenstraße.

Doch zurück: die Drahtzieher des zuvor gescheiterten Aufstandes wollten die Inhaber entmachten, um zumindest eine kollektivistische Programmleitung zu erzwingen; es war nicht die einzige Bühne im Land, die damals von romantischen Ideen herausgefordert wurde, hier aber tanzten die Musen mit ihren marxistischen Walpoden auf den Tischen, die ihnen nicht gehörten, und allzu oft nur auf unterirdischem Niveau. Auch deswegen formte sich während der Gespräche auf jener Reise bis zum spanischen Atlantik eine Alternative zu solchem Provinztheater. Natürlich sollte sie ein lebendiger gastronomischer Treffpunkt für reflektierte Köpfe werden, vor allem für solche, die gleichermaßen an Freiheit, Kunst und Kultur interessiert waren.

Auf der Suche nach dem perfekten Namen

Den Republikanischen Club (RC im Nasengässchen) und die „Katakombe“ gab es nicht mehr, und das Forum-Theater in der Walpodenstraße verstand sich als reiner Pausenbetrieb, der von drei Vollzeit-Berufstätigen geführt wurde, nebenbei, was eine Art Achillesferse für seine Antipoden darstellte; jedenfalls gewährte die Lage in Mainz Raum für ein ergänzendes „Forum“. Die spröde wie anmaßende Bezeichnung „Kulturzentrum“ gab es noch nicht, worauf ich auch nicht gekommen wäre, vielmehr leiteten historische Assoziationen zum gefälligen Markenname hin. „Mayence“: für kurze Zeit einst Teil de France, von Paris geplant als schmuckvoller Außenposten der Grande Nation! „Quartier Latin“: zentral in Paris. Das Altstadt-Viertel: zentral für Mainz. Schnell wurde glasklar: „Quartier Mayence“ ein Name wie ein Schmuckstück, perfekt für das Projekt!

Vom französischen „Cabaret artistique“ entlieh ich die Zutaten: Musik-, Literatur-, und Diskussionsbühne; Kunst an den Wänden. Die Küche sollte Tellergerichte anbieten, einen deftigen Quartier-Eintopf und zu besonderen Anlässen „Spezialitäten à la Mayence“ – frei nach dem Chanson „Mainzer Spezialitäten“ von Friedrich Hollaender. Die Stadt wollte ich als Vermieter gewinnen, aber nur für ein Objekt im pittoresken Teil der Altstadt.

Die Wahl meiner Kompagnons geriet dummerweise reichlich idealistisch, um nicht zu sagen fahrlässig unbekümmert. Parallel zum Fortgang in der Sache wollte ich aus einer BGB-Gesellschaft eine Betriebs-GmbH zimmern. Als „Chef de Cuisine“ stand mit Michel Lux ein gelernter Schiffskoch parat: er wohnte bei mir. Wenn er als Kameramann im Rhein-Main-Gebiet engagiert war, kam er anfangs noch jeweils von Berlin herüber, für die Serie „Das Sozialgericht tagt“ (HR), blieb er einfach da. Beim zweiten Mitstreiter hatte ich lange gezögert, wissend um das Risiko, aber ihn dann doch mit ins Boot genommen: Rolf Gekeler, genannt „Gockel“; auch er auf der Suche nach einer stabilen beruflichen Basis. Mein Konzept wies ihm eine Rolle als „Maître de Plaisir“ zu, als Atmosphäre schaffender Handlanger, Parleur, frei von Geschäftsführungsdingen. Als Unterhaus-Faktotum stadtbekannt, zählte er - wie Michel Lux - zu jener charismatischen Spezies Mann mit treuem Hundeblick, dem die Welt stets jedwede Dummheit zu vergeben geneigt ist; mehrere Pleiten hatte er bereits hingelegt; bei Michel wusste ich es nicht so genau.

Standort sollte erst ein anderer werden

Im Januar 1974 folgte der zweite Termin im Rathaus. Architekten aus Darmstadt stellten die Projektplanung für ihren Teil des Sanierungsgebiets vor. Große Überraschung: Der vorgesehene Standort des „QM“ fiel auf Kirschgarten 2 – tolle Adresse! Sogar ein Neubau, so könnten von vorneherein alle Bedürfnisse berücksichtigt werden – dachte ich, betonte ich... Zwei Monate später brachten die Architekten den fertigen Plan mit, präsentierten ihn mit der Attitüde: So und nicht anders! Das Papier wies eine offene Rotunde als einzigen Gastraum aus, wie eine Lounge unter einem schrägen, zum Teil verglasten Giebeldach, nichts drüber, keine Intimität drunter. Die Nutzfläche war viel zu klein. Der räumliche Bedarf für die Kunst wurde zur Gänze missachtet, es gab keine Bühne, keine Technik, kein Licht, keine praktikablen Wände; für die integrierte offene Küche keine Kammern für Vorräte, nur im Hof ein Schuppen; keine Betriebsräume, kein Office, kein Stauraum für den Außenbereich. Vom Amt kam obendrein die Ansage, Musikveranstaltungen könnten an dieser Stelle nicht genehmigt werden.

Mir ging der Hut hoch, ich schimpfte über die Zeitverschwendung. Während meiner Gegenrede hielt Gockel seinen Unmut kaum unterdrückt – das Klimpern der Kasse an diesem exzeptionellen Standort im Ohr, war es ihm völlig schnuppe, ob mit oder ohne Live-Musik ins Geschäft gegangen würde. Auch Michel Lux, der in den Tagen meiner schriftlichen Prüfungen vorzüglich und nahrhaft für mich gekocht hatte, sah nur die prominente Adresse. Die Zähne knirschten auf allen Seiten, doch ging man – des erneut mit Vehemenz von mir aufgefächerten kulturellen Anspruchs wegen – mit dem Vorsatz auseinander, anstelle eines Neubaus nun ein geeignetes Bestandsobjekt zu suchen.

„Mal abwarten, ob das noch etwas wird“, dachte ich, schließlich hatten wir die Altstadt für in Frage kommende Gebäude schon im Vorjahr tagelang durchkämmt. Doch nun warf sich Freund Gockel in die Brust, gab das Kontra gegen den Vorschlag Kirschgarten 2 kurzerhand als Ausstieg meiner Person aus dem Projekt aus, bestellte sich beim Dezernat als Nachfolger, und zog alle Meldungen der gutgläubigen Amtswalter fortan auf sich; Michel Lux durfte bloß noch Lohn-Koch sein, er merkte anfangs gar nicht, wie er als Mitgesellschafter ausgebootet wurde. Gockel hatte zwei mehr oder weniger stille Teilhaber, Investoren aus Wiesbaden, beigebracht. Bis alles „in trockenen Tüchern“ sei, sollte Michel dichthalten. Schon bald machte das Sanierungsbüro einen neuen Standortvorschlag, den mit der Hausnummer 12 im Weihergarten.

Im Sommer bekam ich von der unfreundlichen Übernahme Wind. Gockel floh aus der Stadt, angeblich soll er wochenlang Angst um sein Leben gehabt haben. Lächerlich. Zwar war ich mehr als enttäuscht von den einstigen Freunden, doch hatte sich inzwischen Zukunftsweisendes ereignet: ich bestand das erste juristische Staatsexamen, bald begann die Zeit als Referendar. Weitere Perspektiven im Bereich Künstlermanagement kamen hinzu, die Ersatzlösung „QM“ verblasste, ebenso wie der Ärger und die Enttäuschung. Ich verzichtete auf einklagbare Ansprüche. Michel Lux musste ausziehen, fand eine neue Bleibe an der Seite von Renate Fritz-Schillo, der Unterhaus-Geschäftsführerin; Gockel und sein Tamtam nahm ich nur noch peripher wahr.

Wann hat das „Quartier“ eröffnet?

Nach langer Renovierungsphase kam es endlich zur stolzen Eröffnung des „Quartier Mayence“; ich war nicht dabei. Kurze Zeit später warf Michel im Streit seine Kochmütze hin. Ein Freund, Gast bei der Eröffnung, erinnert ein konkretes Datum zwar auch nicht mehr, doch mit Gewissheit den Zeitraum, in dem es lag: zweite Jahreshälfte 1975, keinesfalls früher; ich tippe mal auf den Monat September.

Wer will, kann beim Gewerbeamt oder im Archiv der „Allgemeinen Zeitung“ auf den Tag genau fündig werden, es wurde darüber berichtet, und sicherlich nicht ohne Bebilderung, denn der damalige Bildredakteur der „AZ“ bewohnte bereits vor der Eröffnung privat die renovierten Wohnräume schräg über dem Lokal, er bekam hautnah alles mit. Wegen des Lärms gab es naturgemäß Krach; so zogen Pressefotograf samt Familie bald wieder aus.

Gastautor Jürgen Kessler begnügte sich mit „Freibier“ als Trostpflaster für die Nutzung seiner Namenskreation, machte aber von dieser an Gockel gebundenen Offerte nur selten Gebrauch. Der Inhaber der ersten Stunde erlebte die Höhen einer echten Goldgrube und die Abgründe verfehlter Geschäftsführung: nach allerlei Verstrickungen ging man im siebten Jahr pleite. Gockel kam dank einer freundlichen Übernahme mit einem blauen Auge davon. Seiner Nachfolgerin diente er in seiner Paraderolle, als Maître de Plaisir: Charlotte machte ihn zum „Gockel von der Hahn“. Ausgerechnet beim Vermeiden von gleichen Fehlern werden anscheinend die blödesten gemacht – honi soit qui mal y pense.