Es ist ein friedlicher Nachmittag. Angenehme 28 Grad sind es an diesem 7. Oktober, dem Jahrestag des genozidalen Überfalls der Hamas auf Israel. Der Blick über Haifa Richtung Mittelmeer ist ganz wunderbar und pittoresk. Man könnte glauben, diese Idylle könnte durch nichts und niemanden gestört werden. Mein Team und ich bauen gerade unsere Technik für eine Liveübertragung auf, um über die aktuelle Situation in Israel nach Deutschland zu berichten. Unser heutiger Aufenthaltsort ist nicht zufällig gewählt: Haifa ist quasi ein Sammelpunkt – nicht nur für die Informationen, die ich im Norden Israels in den teils menschenleeren Städten sammeln konnte (über 80.000 Israelis sind inzwischen auf der Flucht vor den täglichen Angriffen der Hisbollah aus dem Libanon), sondern auch für die Geflüchteten selbst. Haifa ist eine der zentralen Anlaufstellen für Menschen aus dem israelisch-libanesischen Grenzgebiet; die Hotels sind seit einem Jahr voll mit israelischen Geflüchteten – Juden, Muslime und Christen.
„Die Raketen der Hisbollah unterscheiden nicht zwischen Religionen“, hat mir an diesem Vormittag ein Landwirt, selbst arabisch-muslimischer Israeli, gesagt, dessen Felder durch eine Hisbollah-Rakete in Flammen aufgingen. Seit dem 8. Oktober 2023 steht der Norden Israel unter Dauerbeschuss und die israelische Flugabwehr kommt zum Schutz ihrer Bevölkerung nicht zur Ruhe. Das ist eine Tatsache, von der man in deutschen Medien so gut wie nichts hört. Erst letzte Nacht ist eine Hisbollah-Rakete mitten in Haifa auf einer Verkehrskreuzung eingeschlagen; leider ist auch der Iron Dome, die israelische Raketenabwehr, nicht fehlerfrei. Einen Tag später werden wir erfahren, dass zwei Menschen durch eben solch eine Rakete feige ermordet wurden. In deutschen Medien: auch dazu kein Wort. Beide waren nicht geflohen, sondern sind in ihrer Wohnung in Kyriat Shmona geblieben.
Alarm Rot! Alarm Rot!
Haifa selbst sieht an diesem Nachmittag so friedlich aus, wenn man auf dem Hügel steht. Wie man sich doch täuschen kann: Noch während ich auf Sendung gehe, piepen plötzlich unsere Mobiltelefone: „Tzeva Adom! Tzeva Adom!“ (Alarm Rot! Alarm Rot!) ertönt es. Ein Raketenangriff! Hastig blicken wir auf die markierten Bereiche auf der kleinen Karte in der App, wo der Angriff erfolgt – und sehen, dass der Großbereich Haifa-Hafen unter Beschuss steht. In diesem Moment reagiert auch schon der Iron Dome: Die ersten neun Abwehrraketen steigen mit lautem Zischen in die Luft auf. Weitere folgen. Vier Iron Dome-Stellungen sind es, aus denen heraus die automatische Luftabwehr Menschenleben in Haifa schützt. Die Raketen durchbrechen die Wolkendecke und haben ihr Ziel angepeilt. Mehr als ein Dutzend große Hisbollah-Raketen sind es diesmal, die sich auf dem Weg gemacht haben, israelische Zivilisten, egal welcher Religion und Herkunft, zu ermorden.
Israel lässt das nicht zu; diesmal funktioniert der Iron Dome reibungslos. Die Treffer in der Luft erkennt man gut als kleine Rauchwölkchen. Erst einige Sekunden später ist dann auch die Detonation zu hören. Der Schall braucht seine Zeit, um uns zu erreichen. Die Hisbollah-Raketen wurden in der Luft gestoppt, doch noch sitzen die Menschen am Boden in ihren Schutzräumen, denn jetzt regnen rasiermesserscharfe Raketensplitter auf sie herab. Jeder Splitter ist ein tödliches Geschoss, daher wartet man folglich einige Minuten in den Schutzräumen ab, bis der Hagel des Hasses niedergegangen ist und für keinen Menschen mehr eine Gefahr darstellt.
In Haifas Partnerstadt Mainz gab es an diesem 7. Oktober keine Niederschläge. Dort war es ein sonniger, warmer Herbsttag. Ein schöner 7. Oktober. Der perfekte Tag, um in den nahegelegenen Weinbergen spazieren zu gehen und sich für den Abend eine Flasche Federweißer und Zwiebelkuchen zu besorgen. Friedliche Tage, wie sie sich Israel seit seiner Wiedergründung wünscht. Shalom aus Haifa!
Über Tobias Huch
Freunde bezeichnen den Journalisten und Flüchtlingshelfer Tobias Huch als „Hans Dampf in allen Gassen“ und manchmal auf „Krawall gebürstet“. Mehrere Tassen Espresso sind meist in seiner Nähe, wenn der Nachtmensch und Buchautor (www.KurdistanBuch.de) durcharbeitet.