Jede Biografie hat ihre Zeit. Und was von uns bleibt, ist am Ende Biografie. Geprägt von den jeweiligen Zeit- und Lebensläufen, die seit jeher sich verflüchtigen. Wir wissen kaum noch aus erster Hand wie es jenen ergangen ist, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Von Generation zu Generation geht dieses persönliche Wissen verloren, versickert im irdischen Geschichtsbuch, ungeschrieben oder als Randnotiz. Hatte unsereins noch Lehrer, die Hitlers Gewaltherrschaft mitgemacht haben, die authentisch von Höhen und Tiefen, widrigen oder begünstigten Umständen berichten konnten, sind mit dem Wechsel der Generationen in den Schulen schon lange keine Lehrkräfte mehr da, die aus eigenem Erleben etwas beitragen könnten; die heutigen haben andere Sorgen.
An exemplarischen Lebensläufen interessiert, sammelte ich Erfahrungen von älteren Zeitgenossen, zumal von jenen aus den ‚Weißen Jahrgängen‘. Beispiele: Von einem 92-jährigen Doktor der Chemie, einst mein Reisefreund ‚Don Manfredo‘, mit dem ich Willy Brandt einmal zu Bett brachte, der 1945 in Ludwigshafen ebenso ausgebombt wurde wie Fastnachts-Ikone Herbert Bonewitz (1933-2019) in Mainz. Oder Klaus-Peter Schreiner (1930-2016) in Zweibrücken, der spätere Chef-Autor der ersten Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Oder dem langjährigen Freund Dr. Rolf Cyriax, hochgeschätzter Lektor bedeutender Kabarettisten und Politiker, unter anderen von Dieter Hildebrandt und Egon Bahr; auch er ein Überlebender der unzähligen Angriffe auf Ludwigshafen. Nicht zuletzt von meinen schwäbischen Vettern, die in einem Anbau in Opas Garten unweit Stuttgart als technische Zeichner und werdende Ingenieure begannen und mit ihren innovativen Ideen im väterlichen Unternehmen EWS sprichwörtlich die Welt eroberten – ohne EU und einen überbordenden Staat, der alles reglementieren will. Kreative, gebildete, leistungsorientierte Unternehmer, die mit gelebter Verantwortungsethik in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung auf der Ansehens-Skala für echte Werte weit oben stehen sollten; heute in dritter Generation: als EWS Tool Technologies einer der ‚Hidden Champions‘ Baden-Württembergs. Den Auslöser für diese Betrachtung fand ich indes beim TVW, dem Weisenauer Turnverein, beim Anblick des von Natur aus frohgemuten Seniors am Kopfende des Stammtisches. Sein Lebensbogen greift bereits in die zehnte Dekade aus.
Beherzt und bedächtig verkörpert Franz Schek auf seine bodenständige Art und sportlich ausdauernde Weise ideal die Qualitäten der erwähnten Jahrgänge. Und er turnt mir, dem um etliche Jahre jüngeren, wöchentlich vor, an das ich beim besten Willen nicht herankomme. Ich nicht und die meisten anderen beiderlei Geschlechts auch nicht, so sehr wir uns darum bemühen, aber dazu später. Wer im September 1934 auf die Welt kam, hat etwas gemeinsam mit der Französin Brigitte Bardot, der Italienerin Sophia Loren und dem Österreicher Udo Jürgens (1934-2014). Lässige Europäer desselben Geburtsmonats, später weltweit beliebt und beruflich herausragend, charmant und selbstbewusst, alles andere als spätgermanisch verdrillt. Denn wer vor einundneunzig Jahren im ‚Volksstaat Hessen‘ auf die Welt kam, wuchs in die sozialistische Zwangsjacke eines Führerstaates hinein, der Genugtuung für Versailles haben (nicht ganz unverständlich), mit dem Beifall zu vieler Deutscher wieder kriegstüchtig werden wollte, und der obendrein, als Gipfel des Barbarischen, einem unseligen Stigma entgegenging. Von Auschwitz wusste man in Mainz jedoch noch lange nichts.
Bereits als Kleinkind wurde der Neuankömmling zum Reichsbürger und unterlag dem sogenannten ‚Heimtücke-Gesetz‘, das die Familien im Hakenkreuzreich ab 1934 warnen und einschüchtern sollte. Es scherte sich nicht um die formal noch gültige Weimarer Staatsverfassung, legte den Volksgenossen undemokratische Fesseln an, schränkte das Menschenrecht auf freie Meinung ein, kriminalisierte kritische Äußerungen, zumal solche, die dem Wohle des Reiches angeblich schadeten oder die das Ansehen der Regierung inklusive ihrer tragenden Partei zu beschädigen geeignet waren. Dafür wurde eine geheime Staatspolizei geschaffen, zur Denunziation aufgerufen, und Meldestellen wurden eingerichtet. Ist es nicht unmenschlich, wenn ein Staat sich anmaßt, Andersdenkende mit der Macht seiner Institutionen, bis hin zu Justiz und Medien, auszugrenzen und zu verfolgen? Und ist es nicht bitter, wenn die Mehrheit schweigt und sich wegduckt, wenn auch aus begreiflicher Angst? Alle Städte und Gemeinden durften sich unter Strafandrohung nicht mehr den Anweisungen ‚von oben‘ widersetzen; das galt auch für das katholische, einige Jahrzehnte französische, daher leicht frankophil angehauchte bürgerlich-intellektuelle Mayence. Während Weisenau, ein ehemaliges Fischerdorf, bereits zur Weimarer Zeit in Mainz eingemeindet, sich zu recht zurückhielt, taten andere, noch lange selbständige Ortsgemeinden wie Gonsenheim und Hechtsheim, sich 1933 eilfertig mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Adolf Hitler hervor. Es irrt der Mensch, solang er strebt; so wie Ex-OB Jockel Fuchs, der im Stolzmonat des Jahres 1938 der NSDAP beitrat.
Das Kind im Vorort bekam die gewaltigen Umbrüche nicht mit, aber den Ausbruch des Krieges schon, wie alle. Abenteuer, Siege, Jubel! Gänsehaut, wenn das Präludium von Liszt als Trailer für die Meldungen der Wehrmacht aus dem Volksempfänger schallte. Stolz! Bis zum Überfall an einem Sonntag im Juni auf die Sowjetunion. Bis die ersten englischen Bomben auf die Heimat fielen und es plötzlich um die nackte Existenz ging. Wenn die Sirenen Deckung befahlen, hatte jedes Familienmitglied den Auftrag, Säcke mit Kleidungsstücken mitzunehmen. „Es ist ein Gewölbekeller, der bricht nicht ein.“ sagte der Hausherr am 27. Februar 1945, als es gleich dreimal Luftalarm gab. Jedes Mal schleppte der Junge zwei Säcke mit Schuhen in den Schutzraum. Nichts passierte. Beim vierten Alarm hatte Franz keine Lust mehr auf Keller, haute ab, lief die heimischen Gassen hinunter zum Rhein, hielt fasziniert am sogenannten Tanzplatz inne, gebannt von dem gruseligen Schauspiel am Himmel.
Von Westen her dröhnte sechzehn Minuten lang ein gewaltiges Geschwader von sage und schreibe 435 Bombern der Royal Air Force über die Region und warf rund 1500 Tonnen Bomben ab. Ein Teil landete im Fluss, der weitaus größere brachte Tod und Verderben über die alte Stadt am Rhein; in Weisenau brannte es lichterloh. Der Zehnjährige rannte den Berg hoch zurück zum Keller. Das Gewölbe hatte Stand gehalten, eine Standpauke der Mutter folgte. Neunzig Prozent des Vororts waren am nächsten Tag zerstört. Überlebende und Verwundete fristeten von heute auf morgen ein zerrüttetes Dasein in Trümmern und Not. Mütter sangen den kleinen Kindern das Mainzer Lied vom ‚Heile Gänsje‘. Der Kampf um das Dürftigste begann. Hamstern hieß die Parole. Kohlen klauen nannte man ‚fringsen‘, seit der Kölner Kardinal Frings 1946 dafür Verständnis geäußert hatte. Auch Franz und seine Familie lebten auf Jahre hinaus von der Hand in den Mund, auch sie hatten Fürchterliches gesehen und erfahren. Wer außerhalb der Stadt Kontakte besaß, Verwandte oder Freunde, ‚machte hinaus‘ aufs Land. Zur Pariser Chaussee führte von Weisenau aus der Weg wie heute durch die Göttelmannstraße, im Volksmund ‚Zehn Bäume‘ genannt, besser: Zee Beem. Nur drei davon überlebten die harten Jahre, erinnerte sich Franz.
Dass damals die Straßen weithin demoliert waren, lässt sich gut vorstellen. Fährt man heute, nach Jahrzehnten in Frieden und Wohlstand, von der Klinik über die ‚Goldgrube’ nach Weisenau, rumpelt es auch nicht schlecht. Baustellen erlebt man die wie verschleppte Erkältungen. Das alte Lied. Zu jeder Zeit sorgt die herrschende Politik für Ursachen und Wirkung, zumeist gegen die Interessen der geplagten Steuerbürger. Trotz Abgaben bis zum Anschlag, gehört die stetige Bestandspflege der Verkehrsadern nicht zu den prioritären Investitionsent-scheidungen von Politik und Verwaltung; Flickschusterei ist Trumpf und lässt allmählich an Kuba denken. Wer die schweren Zeiten des Zweiten Weltkriegs, die kargen Nachkriegsjahre und den Wiederaufbau von Kindesbeinen an miterlebt hat, gewann zweifellos Sinn für das Vage im Leben, kann seitdem mit Unsicherheiten aller Art umgehen, weiß aus eigener Erfahrung, dass ohne Antriebskraft und Beständigkeit nichts geht und was es heißt, sich immer wieder neu orientieren zu müssen. Er kennt Scham und Hunger, Rückschläge und Demut. Die allgemeine Annahme halte ich für begründet, dass die solcherart erworbene Resilienz bis ins hohe Alter zu einer grundsätzlich stabil-positiven Lebenseinstellung führt. Für Franz Schek definitiv geführt hat, denn einer seiner Leitsätze, vielleicht sein wichtigster, lautet: Man muss das Beste draus machen. Was nützt auch Lamentieren? Nach Ächtungen und den Entbehrungen der frühen Jahre krempelten die in den Dreißigern Geborenen die Ärmel hoch. Sie vor allem waren es, die in ihrer kraftvollsten Lebensphase den wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er und 1960er Jahre erarbeiteten. Die Rahmenbedingungen stimmten, viele konnten sich eine gute Gegenwart aufbauen, für die Zukunft vorsorgen, oft ein Eigenheim erwerben. Das gibt Sicherheit, Zufriedenheit, Zuversicht. Es sind Kraftquellen einer gut-vernünftigen Bürgerlichkeit, wenn man sie zu schätzen weiß. Ausgelassene Familienfeiern zeugten bis in die temperamentvollen 1970er Jahre hinein von der Intensität schierer Überlebensfreude nach früh erfahrenem Leid. Glück und Sinn kamen mit Familiengründung hinzu. Franz lernte seine Liebe 1956 kennen, beim Tanz in der Turnvereinswirtschaft. Er war einundzwanzig, volljährig, stand im Beruf, erwachsen und verlässlich. Die gelernte Buchhalterin Juliane half hinterm Tresen aus. Franz drückte sich in ihrer Nähe herum. Zu einem Walzer winkte er stürmisch die hübsche Auserwählte herbei. Ein Jahr später kam es zur katholischen Vermählung, vor drei Jahren zur seltenen Feier der Eisernen Hochzeit. Durch dick und dünn verbunden bleiben: Kern und Kitt unserer Zivilisation.
Franz hatte den Beruf des Linierers erlernt: Handwerk hat goldenen Boden. Er blieb seiner Firma fünfundzwanzig Jahre lang treu. Bis er 1974 als Pedell an der Martinus-Schule anfing. Die Kinder der Scheks kamen ganz selbstverständlich nach und nach und ohne psychologische Hilfe, wie sie heutzutage oft von Großstädtern für nötig gehalten wird. Stattdessen machte man in Bayern Urlaub auf dem Bauernhof, den ersten 1961. Juliane ist Mutter und Hausfrau und hilft ihrem Mann in der Schule bei der Getränkeausgabe in der großen Pause. Franz sitzt als hilfsbereiter Hausmeister fest im Sattel seiner Berufung. Schalkhaft und gesellig, mit viel Verständnis und vernünftigen Maßstäben bleibt er bis in den Ruhestand hinein im Dienst an der Jugend und daher der Schülerschar im Vorort, zumal der sportlichen, in bester Erinnerung. Seinem Verein gehört Franz inzwischen fünfundsiebzig Jahren an, genauso lange wie Juliane, die über Jahrzehnte Schriftführerin und Übungsleiterin war. Für ihre Vereinsleistung genießen beide Anerkennung, für ihre Lebensleistung Zuneigung von allen Seiten, von ihren sieben Kindern voran, dazu vierzehn Enkel und elf Urenkel. Weiß noch wer, was das bedeutet, privat, für den Zusammenhalt, für das Gemeinwesen? Am Respekt von seinen Übungsteilnehmern fehlt es dem rüstigsten aller Rüstigen freilich auch nicht. ‚Rückenschule‘ heißt der Kurs, den er nach schwerem Rückenleiden und drei Operationen vor fast dreißig Jahren autodidaktisch entwickelt hatte und den er seitdem als Leistung des Vereins für die Mitglieder unermüdlich zur Verfügung stellt. Seit einigen Jahren zähle ich mich dazu. Sein Credo lautet: Bewegung, Bewegung, Bewegung. Immer sind die Einheiten gut besucht. Eine Stunde lang macht der Übungsleiter in seinem ‚Franzissimo speziale’ souverän vor, was steife Knochen fit halten soll.
Doch kaum jemand schafft es, jedem Muster des Vorbilds exakt zu folgen. Ich bin nicht der Einzige, der nach der Hälfte der Stunde an die erquickende Schorle bei Lorena und Pino denkt, den deutsch-italienischen Betreibern des Ristorante Tricolore im TVW-Lokal. Blick nach vorne: Das Paar wird im Herbst 2025 seine Geburtstage begehen, Juliane den neunzigsten. Franz den einundneunzigsten. Der nicht minder engagierte Stellvertreter Ronald wird beide hochleben lassen, genau dort, wo ihre Liebe begann, in der Wirtschaft des Weisenauer Turnvereins. Stammtischfreund Günther, der diesen Text auf korrekte Familie Schek-Fakten geprüft hat, wird für seine herzlichen Verse wieder viel Applaus erhalten. So steht es auf dem Wunschzettel. Franz Schek hat aus den Herausforderungen seines Lebens Beharrlichkeit und Stärke entwickelt. Christlich traditionell gefestigt, stets davor gefeit, auf den Schaumkronen des Zeitgeists davonzuschwimmen. Er ist ein beseeltes Beispiel für tatkräftige Menschlichkeit. Ich verneige mich zusammen mit allen Jüngern und Jüngerinnen des Weisenauer Franziskus dankbar vor dieser selbstlosen Vitalität. Aber insgesamt auch vor einer besonderen Generation. Gerade weil sie harte Jahre jung gemeistert haben, wussten und wissen alle, die ich aus der 1930er Dekade kennenlernen durfte, das Leben in Höhen und Tiefen zu verstehen und im Miteinander wertzuschätzen. Es sind jene, denen der Kanzler der Einheit einst die ‚Gnade der späten Geburt‘ zuschrieb und die dennoch lebenslänglich für das Ungeheuerliche, für das, euphemistisch, ‚im deutschen Namen‘ Begangene, in Haftung genommen wurden. Zu recht oder zu unrecht? Ich weiß es nicht. So wie wohl niemand weiß, wie man selber sich damals verhalten hätte und welches Schicksal dem schwierigen Vaterland noch bevorsteht. Man genoss nach dem Krieg in der militärisch besetzten Bonner Republik lange ein zwar eingehegtes, aber individuell weitgehend freies, zunehmend gutes Leben nach ziviler Manier. Diese rheinische Phase in der deutschen Geschichte, von Staats und Besatzungsmacht wegen bescheiden, anständig und verantwortungsbewusst grundiert, betrachten viele Altersgenossen als eine glückliche. Sie kommt nicht wieder. Mannigfachen Bürden zum Trotz blicken die Zeitzeugen jener Jahrzehnte mit Gelassenheit in die kostbarer gewordene Zukunft. Und wenn Franz dieser Tage seine Juliane im Rollstuhl eine große Runde von Weisenau durch den Volkspark bis zum Stadtpark schiebt – Bewegung ist alles –, und wir uns parallel zu den vergessenen ‚Zee Beem‘ wieder beim Spaziergang begegnen, dann zucken wir mit den Achseln, ziehen unsere alten Sommerhüte und lachen uns zu. Man muss das Beste draus machen.
Gastautor Jürgen Kessler, in Mainz geboren, bis 1990 Volljurist beim Rechtsamt der Stadt, bis 2019 Geschäftsführer der Stiftung Deutsches Kabarettarchiv. Initiator der ‚Sterne der Satire‘. Über Jahrzehnte Tourneeorganisator von Hanns Dieter Hüsch und Herbert Bonewitz. Bühnenstücke, Bücher, Texte und Lieder, u.a. für Lisa Fitz; zuletzt für Klaus Lage die Dauerzugabe: Affenzirkus.