Keine Straße in Mainz trägt ihren Namen – warum?

Gastautor Jürgen Kessler erinnert an eine Zeitzeugin der „Mainzer Republik“, die heute vor 260 Jahren geboren wurde.

Keine Straße in Mainz trägt ihren Namen – warum?

„Es liegt ein Druck auf der Welt, unter dem man nicht mehr frei zu atmen vermag.“ Dieser Satz von Caroline Schelling sprang mir aus einem verschollenen Reclam-Bändchen in die Augen, auf Anhieb fühlte ich mich verbunden, und als ich weiterblätterte in ihren nie für die Öffentlichkeit gedachten Briefen, regte sich große Neugier auf dieses ungewöhnliche Geschöpf des achtzehnten Jahrhunderts.

Herausgeberin Sigrid Damm zeigt uns in ihrem Konvolut „Begegnung mit Caroline“ eine Frau, deren „offensive Weiblichkeit“ zur Legende wurde, deren „vorurteilsloses Handeln, ihr politisches und ästhetisches Feingefühl, ihre lebhafte Empfänglichkeit uns Maßstäbe für die Menschlichkeit setzte“. Und tatsächlich, Caroline hat aus Sicht von heute in einem hohen emanzipatorischen Bewusstsein ein faszinierend freies Frauenleben geführt. Klug, sprachbegabt und gesellig, war sie von der Poesie des Alltags und den Wonnen des Eros durchwebt, und gerade deshalb so inspirierend und anziehend für die Dichter der Romantik.

Für Schlegel war sie mit ihrer ‚politisch-erotischen Natur‘ der vermutlich leidenschaftlichste Resonanzkörper seines Lebens. Und ja, Caroline Dorothea Albertine Schelling, geschiedene Schlegel, verwitwete Böhmer, geborene Michaelis (1763 in Göttingen), genügten seit ihren Jugendtagen nur geringste Anlässe, die Glut ihres Verlangens zu entfachen. Ihr natürliches Selbstwertgefühl reifte an den zeitgeschichtlichen Umständen, ihren Partnern und den literarischen Ambitionen. Sie erwuchs zur Ikone idealer Weiblichkeit: erotisch und patent, von romantischer Ader und politischem Wirklichkeitssinn, mit einem feinen, auch ironischen Blick für menschliche Schwächen. Der konventionellen Moral ihrer Zeit setzte sie unbefangen die Tiefebene ihrer exzessiven Sinnlichkeit entgegen. Man könnte Carolines Leben wahrlich romanhaft ausmalen, es gäbe einen glänzenden Filmstoff ab, strotzend vor Gefühlswallungen, Lust und Verlust.

Ab März 1792 in Mainz

Gärung und Verlauf der ‚Mainzer Republik‘ erlebte sie authentisch und hautnah an der Seite des Hauptaktivisten. Als „kokette junge Witwe“, so ihre unbekümmerte Selbstbeschreibung, war sie im März 1792 nach Mainz gezogen, ganz in die Nähe ihrer Jugendfreundin Therese, die mit Georg Forster verheiratet war, dem nach seiner Südseereise mit James Cook berühmten Bibliothekar der Universitätsstadt. Im August verbringt der dreiundvierzigjährige Goethe zwei Abende im Hause Forster. Georg gehörte noch nicht den ‚Klubisten‘ an, noch galt der Bewegung nur seine Sympathie, noch drangen die Schrecken des 10. August vom Blutfuror der Sansculotten von Paris nur spärlich an den Rhein herüber; noch standen keine revolutionären Truppen vor den Toren der Stadt, die bald in ‚Mayence‘ umbenannt werden sollte.

Einen Monat zuvor erst hatte der Mainzer Kurfürst von Erthal, einer der reaktionärsten deutschen Fürsten, bewusst am dritten Jahrestag des Sturms auf die Bastille, in Frankfurt den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt, den vierundzwanzigjährigen Franz II., dabei ihn und den König von Preußen, Herzöge, Minister und Gesandte, als seine Gäste nach Mainz eingeladen (Sigrid Damm), die Reichsvertreter tagten im Schloss Favorite oberhalb der Stadt, die vor lauter Fremden aus den Nähten platzte. Auf der rechten Rheinseite nahmen bereits die vereinten feudalen Machthaber Stellung. Aber noch saß der konservative Goethe bei dem beliebten Weltumsegler und gab sich keinerlei Mühe, das Gerücht, er sei der wahre Vater von Carolines Tochter Auguste, zu zerstreuen. Wozu auch? Zu viel deutete darauf hin. Der Dichterfürst suchte, das Tischgespräch in Balance zu halten, obgleich es um die innere Balance seines Gastgebers schlecht bestellt war.

Ebenso wie Caroline machte Georg Forster nämlich keinerlei Hehl aus seiner republikanisch-demokratischen, also revolutionären Gesinnung. Goethe war davon nicht begeistert, schätzte aber den beherzten Gastgeber, und zog sich eloquent aus der Affäre. Als die umstürzlerischen Ideen virulenter wurden, trat der enthusiastische Bibliothekar dem Jakobinerclub bei und wurde ihr Sprecher. An deren Treffen durfte Caroline nicht teilnehmen, da – böse Ironie – in die ‚Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit‘ keine Frauen aufgenommen wurden. Dennoch spielte sie bei der Erweckung, Reflexion und Stimulanz freiheitlich-fortschrittlicher Ziele in den ‚linken‘ Mainzer Kreisen eine wichtige Rolle.

In Oppenheim verhaftet

Die Forsters hatten einen Hausfreund namens Huber, mit dem Gattin Therese – trotz vehementen Contras ihrer Freundin – intim wurde; Georg duldete die Liaison der Mutter seiner Kinder mit dem Liebhaber nicht nur – er war einverstanden. Und als Therese im Dezember, samt Kindern und Huber, in die freie Schweiz gegangen war, nahm Caroline den Platz der Freundin ein, zog mit Tochter Auguste von der ‚Welschen Nonnen Gasse‘ zu ihm hinüber und besorgte noch einige Monate den Gelehrten-Haushalt in der Neuen Universitätsstraße 5. Wenig überraschend, dass ihr ein Verhältnis mit dem Hausherrn angedichtet wurde, und gewiss fallen Dichtung und Wahrheit zuweilen in schönster Manier zusammen. Ob auch sie die Stadt verlassen soll, war bald die bange Frage, in der kalten Jahreszeit für Caroline aber noch keine Option. Den unermüdlich der großen Sache verschriebenen Jakobiner Forster zog es zu den Ideologen ins Hauptquartier an der Seine. Caroline hatte Angst, allein gelassen zu werden, steckte voller Zweifel, zu vieles in ihrem Leben ging drunter und drüber. Sie war gegen Despotie, aber keineswegs gegen alle Aristokraten, und eine Befürworterin der Guillotine war sie so wenig, wie ihr hohes Verständnis von Emanzipation es ausschloss, Mann und Kind nicht als gleichermaßen wert und berechtigt anzusehen, erst dann ist es ein Ganzes.

Und nur im Ganzen liegt bekanntlich die Wahrheit (Hegel). Im Februar 1793 gab sie sich in einer Ballnacht einem neunzehnjährigen Leutnant der französischen Armee hin, in der ‚Glut der Nacht‘, wie sie schrieb, und als im März die ‚Mainzer Republik‘ ausgerufen wurde, war sie schwanger. Als ‚leichtfertiges Frauenzimmer‘ von der Obrigkeit diskriminiert, als ‚Democratin‘ verachtet, den Umstürzlern zugerechnet, floh Caroline mit Auguste aus Mainz, wurde in Oppenheim verhaftet und in der Festung Königstein im Taunus arretiert, dann in Kronberg unter Hausarrest gestellt.

Erst die Eingabe ihres Bruders Gottfried Philipp Michaelis, direkt an König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, brachte im Sommer die Freilassung. Das Andenken an Mainz wuchs in ihrem Schoß heran und erblickte in einem Versteck bei Leipzig als Sohn Wilhelm Julius das Licht der Welt. Als später, erst an der Seite von Schlegel, dann von Schelling, ihre ‚Bewegung in der literarischen Welt stark und gärend‘ wurde, auch der Austausch mit Schiller, Tieck, Fichte, Novalis und anderen intellektuelle Früchte trug, rückte die turbulente Mainzer ‚Privatbegebenheit‘ in den Hintergrund.

Wann wird eine Straße nach ihr benannt?

Fazit: In brisanter Zeit lebte die fürsorgliche Mutter und charismatische Aphrodite inmitten der städtischen Wirrnisse, als kritische Einflussnehmerin, vor allem aber als klare Sympathisantin von Republik und Demokratie. Großartig! Was sollte gegen eine solche Identität als Persönlichkeit von erotischer, literarischer und politischer Natur noch sprechen? Was wollte man heutzutage gegen die Benennung einer Straße zu Ehren ihres Namens in Mainz vorbringen? Dass sie die erzkatholische Stadt als ‚gefallener Engel‘ verließ, wie von Klerus, Macht und Unmenschlichkeit einst etikettiert? Wenn also wieder mal ein Frauenname für eine Straße gesucht wird: Caroline Schelling wäre wohl mehr als eine Hausnummer wert. Allein durch ihre Briefe ragt sie aus der deutschen Kulturgeschichte heraus, zeugt von Aufgeschlossenheit und Güte, ist revolutionäre Botschafterin einer ‚heiligen Liebeslust‘, beseelt von einem Bewusstsein, das beispielhaft sein könnte für alle Frauen, die ihre weibliche Echtheit jenseits alles ‚Woken’ heute gestärkt sehen wollen und begierig sind, in ihrem Selbst ganz selbstverständlich und ohne Vormund eigen und frei zu sein – zu leben.

Gastautor Jürgen Kessler, als Kind selbst wohnhaft in der Neuen Universitätsstraße 5, erinnert an den Geburtstag von Caroline, der am 2. September 260 Jahre zurückliegt. Ebenfalls im September, am 7., ist sie verstorben, 1809. Wie ein verstecktes Plädoyer für mehr Verbundenheit und Liebe in der Welt, für Verspieltheit, Esprit und spontane Erotik, stammt von ihr der bedenkenswerte Satz: „Jeder angenehme Augenblick hat Wert für mich – Glückseligkeit besteht nur in Augenblicken.“

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