In den 50ern und 60ern in der Großen Langgasse aufgewachsen

Gastautor Jürgen Kessler wirft einen Blick auf das Mainz seiner Kindheit – und schaut von dort aus auf die Gegenwart.

In den 50ern und 60ern in der Großen Langgasse aufgewachsen

Über kahle Baumwipfel, rauchende Schornsteine und Amöneburgs Betontürme geht der Blick hinüber zu den wolkenverhangenen Höhen des Rheingaus. Davor der ruhmreiche Rhein, an Wasser mangelt es ihm auch im neuen Jahr nicht. Ein Bild, bei dem mir ein Vers von Ringelnatz einfällt: „Ein Rauch verweht, ein Wasser verrinnt, eine Zeit vergeht, eine neue beginnt.“

„Vor allen anderen Flüssen liebe ich den Rhein“, schwärmte einst Victor Hugo, denn „der Rhein ist ein edler Fluss: aristokratisch, republikanisch, kaiserlich, würdig, sowohl Frankreich als auch Deutschland anzugehören – der Rhein vereint alles.“

Die Dichter-Ikone der Franzosen konnte um 1840 nicht ahnen, welche Katastrophen noch kommen würden, aber ihr Enthusiasmus beeindruckt. Als Hugo starb, wurde dort, wo rechts und links des Stroms die Bischofs- und Kurfürstenstadt Mainz römisch-katholische Geschichte schrieb, eine überaus prächtige Brücke eingeweiht, erbaut nach den Plänen des Architekten und Malers Friedrich von Thiersch. Von Nazis am Ende des zweiten Weltkrieges zerstört, mit Anstrengungen wieder aufgebaut, zuletzt bildschön restauriert und funktionstüchtig gemacht, ist das epochale Bauwerk ein Schmuckstück unter den Brücken am Rhein! Nur sein Name nicht. Die „Stroßebrigg“, so der unprätentiöse Volksmund, widmeten die Entscheider ausgerechnet auf den Namen eines Politikers um. Musste das sein? Warum nicht nach ihrem formidablen Urheber? Er hätte es verdient. Warum nicht nach dem größten Mainzer Namen überhaupt, Gutenberg, der noch dazu in Eltville und Straßburg am Rhein ansässig war? Oder nach dem großartigen Jahrhundertschriftsteller Carl Zuckmayer? Wie Freund Bert Brecht ein Exilant in brauner Zeit, er hätte bei der Brückentaufe 1968 sogar noch gelebt. Jedenfalls nach einem untadeligeren Vorbild, als es der behäbige Schwabe aus Brackenheim, Theodor Heuss (FDP), nach meinem Geschmack sein kann. Denn dessen Abgeordneten-Stimme für das „Ermächtigungsgesetz“ machte mit den Weg in die Führerkatastrophe frei! Er gehört zu jenen, die den alles verheerenden Ungeist eines Adolf Hitler 1933 in Macht setzten.

Der güldene Wetterhahn schaut von oben herab und weiß es auch nicht. Die Spitzdächer und Sandsteintürme unter ihm streben wie eine düstere Silhouette aus ferner Zeit empor. Mächtig, mystisch und doch vertraut. Schon als Knirps konnte ich einen Zipfel des Martinsdoms aus dem heimischen Fenster im dritten Stockwerk betrachten. Im Erdgeschoss führten die Eltern ihr Geschäft, voller Freude über eine Existenz in Selbstständigkeit. Ein Glücksfall nach dem Krieg! Passender Raum, zentrale Lage, gläserne Ladenfront am Eins-A-Laufweg. An selber Stelle, im Pub „Sixties“, pflegen heute Zeitgenossen aller Altersklassen ihr nostalgisches Verhältnis zum Tabak. Der Qualm erinnert an die verrauchte Atmosphäre einer von guter Laune und Zuversicht erfüllten Ära. Die Eingangstür aus Glas war mein Fenster zur Welt. Schaut, wer durch ein Fenster blickt, nicht zugleich in sein Inneres, in sein Gefühlsleben? Wie oft drückte ich an dieser Glastür meine neugierige Kindernase platt! Erwachsene betrachten, Passanten, wie sie sich geben, sich bewegen, wie sie aussehen. Mädchen, wenn sie auf flinken Beinen mit schwingendem Pferdeschwanz-Haar über das geflickte Trottoir eilten. Geschäftsleute in grauen Anzügen, viele noch aus der Vorkriegszeit. Nonnen, Händler, Arbeiter, Kriegsversehrte. Noch in den späten Fünfzigern passierten viele ärmlich gekleidete Leute den Bürgersteig, ausgemergelte Gestalten, teils auf Krücken. Sie schleppten sich voran, als kämen sie gerade aus dem Lazarett und wüssten nicht wohin. Kaum achtzig Meter weiter, an der Rückseite des Erthaler Hofes, befand sich eine Betriebs- und Armenküche im Souterrain, zu deren Oberlichter humpelten die Einsamen für ein bisschen Wärme. Einmal, als meine Mama durch den Spalt am Glastür-Vorhang guckte, trat ein Einarmiger näher, klopfte an und bat um etwas zu essen. Die Mutter ging nach hinten und kam mit einem fetten ‚Worschtebrot‘ zurück. Das machte mich mächtig stolz auf sie.

Rechts von unserem Geschäft klaffte eine Lücke, daneben bald der Hochbau für ein neues Filmtheater. Die andere Straßenseite war anfangs interessanter: Mauerreste in wüsten Erdverwerfungen, von wildem Holunder baumhoch überwuchert, die alten Anwesen, von der Welschnonnengasse bis zur Umbach, waren großteils zerstört. Irgendwann rückten Bagger an und boten uns einen neuen Schauplatz. Zwischen Großer Langgasse, der zum Himmel offenen Ruine von Sankt Emmeran und der Steingasse entstanden riesige Baugruben. In denen spielten wir Krieg, Amis gegen die Kommunisten, die Rote Armee hatte Ungarn überfallen. Keiner wollte ein Sowjet sein, alle immer nur lässige GIs, mit Chewing Gum und Hersheys Chocolate. Uns ‘Kids’ imponierte die MP, die Military Police, wie sie in offenen Jeeps freundlich durch die Baustellen-Stadt patrouillierte, keiner konnte ihnen etwas anhaben.

Auf dem Bau gegenüber pfiffen junge Maurergesellen fröhlich vom Gerüst, wenn eine Hübsche im Petticoat vorbei flanierte, die lächelte dann meistens zurück. Männliche Unsitte, behaupteten manche. Für meine flotte Cousine, die damals zeitweise das Büro bei uns führte, war es das lebenslustige Gegenteil, lakonisch meinte sie: Wird einer nicht hinterher gepfiffen, muss sie eben noch an sich arbeiten.

Bei Regen stürmten wir in die Spritzengasse, ins City-Stundenkino. Nach Vorspann und Wochenschau flimmerten ewig scheiternde Helden über die Leinwand: Buster Keaton, Charlie Chaplin, Stan und Olli, damals natürlich Dick & Doof. Staunen und Mitfiebern für fünf Groschen. Quietschendes Kinderlachen, unbeschwert wie nie wieder. Aus kleinen menschlichen Schwächen ein Kunststück machen, das ist nicht das Schlechteste, denke ich, und dass es ein großes Glück war, in diesen beschwingten Jahren aufgewachsen zu sein.

Der Winterabend senkt sich auf die Stadt, Zwielicht-Stimmung vor dem Fenster. Was das angebrochene Jahr wohl bringen wird? Neue Zumutungen, alte Irrtümer? Jenseits des Technischen findet sich kaum Neues unter der Sonne: „Der Fluch unserer Zeit ist, dass Irre Blinde führen.“ William Shakespeare, King Lear. Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Und was von den Dichtern, den Besten? Der Krieg geht nie vorbei. Er sieht sich nach Gelände und dann nach neuen Menschen um. Und immer führt ein Vorspiel hin zu ihm. Wenn die wahren Abenteuer im Kopf sind, ist das größte davon der Friede. Friede in kluger Freiheit. Hoffen wir auf kreative Köpfe. Der blaue Planet braucht sie.

Gastautor Jürgen Kessler, so alt wie das Grundgesetz, wuchs in Mainz auf, besuchte die Eisgrubschule und das Gutenberg-Gymnasium, studierte an der Johannes-Gutenberg-Universität und trat als Volljurist in den Höheren Dienst bei der Stadt Mainz ein. Parallel beschäftigten ihn Musik und Kabarett, Künstler und Kulturmanagement. Er schrieb zuweilen Lieder, Bücher und Bühnenstücke, leitete drei Jahrzehnte das Deutsche Kabarett-Archiv und initiierte auf dem Romano-Guardini-Platz den etwas anderen Walk of Fame, die ‚Sterne der Satire‘.