Im Reich der Bekenntnisse – vom kleinen Weinmaleins

In diesem Text bekennt sich Gastautor Jürgen Kessler zum Mainzer Weinmarkt und rechnet – auch lyrisch – mit Zensurversuchen ab.

Im Reich der Bekenntnisse – vom kleinen Weinmaleins

Wir leben in ereignisreichen Zeiten; auch in bekenntnisreichen. Kaum klappt man sein Notebook auf, geht das los, hat man im Internet sein Einverständnis zu bekennen für irgendwelche Cookies oder sonstige Zugangsvoraussetzungen im Datenverkehr, sonst steht man ratzfatz draußen oder vor neuen Fragen. Ich wollte einen Text beginnen, mir Gedanken um ein Bekenntnis von Ozzy Osbourne machen: „I’m just a dreamer. I dream my life away.“

Kaum hatte ich den ersten Satz zu Papier gebracht, quatsch, in eine Datei geschrieben, schon leistete sich das Schreibprogramm ungefragt ein Bekenntnis. Es unterstrich eine einfache, selbstverständliche, zulässige, literarisch geradezu kreative Wortbildung mit einer roten Linie, wie bei einem Ausdrucksfehler im Schulheft alter Tage. Das Wort ‚bekenntnisreich‘ kommt im Schatz des Systems einfach nicht vor, scheint ihm trotz aller Intelligenz unbekannt oder mangelhaftes Schriftdeutsch zu sein; man könnte auch sagen, dem Wortgebilde fehlt die schreib-politische Korrektheit. Dafür wird es vom Programm knallrot gebrandmarkt, sogar in Wellenlinie, Alarmstufe eins also. ‚Ereignisreich‘ geht, ‚bekenntnisreich‘ geht nicht, Punkt! ‚Ratzfatz‘ geht übrigens auch nicht, jedenfalls nicht ohne Rotstift von Big Brother. Was der Bauer im Universum des Thesaurus nicht kennt, frisst er nicht, will er nicht haben, grenzt er aus – wo kämen wir sonst hin?

Ich klappte den Computer wieder zu und beschloss, selber ein Bekenntnis abzulegen, nahm den Hut und begab mich demonstrativ auf einen Einzelschweigemarsch gegen institutionellen Zwang, ohne Trillerpfeife und Transparent, direkt zum Stadtpark. Sozusagen als bekennender Spaziergänger. Zufällig war dort Weinmarkt, auch gestern schon, ich steuerte automatisch dem selben Weinstand zu, einer, der in einer akustischen Nische sein Geschäft macht, fast ganz ohne Rock-Tamtam. Bei einem Gläschen Blanc de Noir kam ich ins Grübeln über das Phänomen, wie leicht es sich mit der genauen Unkenntnis der Dinge leben lässt. Zum Beispiel, dass wir trinken, was uns schmeckt, ohne genau wissen zu wollen, warum das so ist und wer oder was dahinter steckt. Gut, manche wissen es. Oder sie wollen es wissen, soll sein, natürlich. Aber die meisten wollen einfach nur genießen: den Wein, die Luft, ihre Jugend, ihr Alter, die Bäume im Park, den Blick auf den Rhein, ihr reizendes Gegenüber, überhaupt die Gesellschaft in lockerer Atmosphäre im illuminierten Park der Stadt, die schon so viel gesehen hat.

Das sind alles Bekenntnisse, dachte ich, nachdem ich mich beim zweiten Gläschen zu einem Weißburgunder bekannt hatte. Alles Bekenntnisse zum Leben, zum Miteinander, zum Flirten und Lachen unter freiem Himmel, jedenfalls zum friedlichen Feiern im Glanz der Lichterketten; gerne ein bisschen berauscht, na und? Schon die Kelten, Germanen und Franken tanzten hier um ihre Lagerfeuer, stellte ich mir bei einem Gläschen Riesling feinherb vor, und mit den Römern kam der Wein. Alle zechten sie am Rhein zu Ehren ihrer Götter, zum Lob ihres Feldherrn, zum Wohle ihrer Leiber, für die Gunst ihrer Weiber. Ich zückte meine Kladde und notierte ein paar Einfälle unter dem Arbeitstitel: ‚Mainzer Mathematik‘. Kein Zensor, keine Rotstifte nervten. Beim vierten Gläschen lief es wie von selbst. Ein Drehleierwalzer stellte sich plötzlich in meinem Kopf ein und wies den Worten ihren Weg:

„Im kleinen Weinmaleins ist Mainz die Nummer eins, an unsrem schönen Rhein gedeiht der beste Wein, die alten Römer schon sangen ein Lied davon: Moguntia Parnass, in vino veritas. Als Marketenderin oder als Königin, ob arm oder ob reich, beim Wein sind alle gleich. Weil diese Rechnung stimmt, das Weinmaleins erklingt, habt ihr es schon im Ohr? Dann singt mit uns im Chor: Wein mal eins ist Mainz im kleinen Weinmaleins, ob rechts, ob links am Ufer des Rheins, Wein mal eins ist Mainz, ob rechts, ob links am Ufer des Rheins, Wein mal eins ist Mainz.“ Und weiter ging es: „Fehlt heut bei aller Welt im Portemonnaie das Geld, kommt her in unsre Stadt, die auch keine Reichtümer hat, wir machen uns nichts draus, uns geht der Spaß nicht aus, wenn Mainz 05 gewinnt, freut sich hier jedes Kind. Die Weinhauptstadt am Rhein lädt alle herzlich ein. Gott Jokus lacht dazu, verführt zum Rendezvous mit Bacchus’ frohem Geist, bis du am Ende weißt: Im großen Weltgeschehn muss alles mal vergehn, im kleinen Weinmaleins bleibt Mainz allein die Eins.“ Denn: „Wein mal eins ist Mainz im kleinen Weinmaleins, ob rechts, ob links am Ufer des Rheins, Wein mal eins ist Mainz.“

Leise, aber ohrwurmig nahm der Walzer kein Ende, nur mein abendlicher Ausflug in die Welt des Weines. Morgen, dachte ich auf dem Heimweg, morgen schreibe ich das Weinmaleins ins Reine, dann liegt es wenigstens in der Schublade, und man könnte bei Bedarf mit ihm rechnen.

Gastautor Jürgen Kessler überzeugt sich seit Jahrzehnten von der stetig angestiegenen Qualität der Weine unserer Region, insbesondere der rheinhessischen Rebensäfte. Lieblingswein in diesem Jahr: ein trockener Weißburgunder vom Klostermühlenhof im Selztal.

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