Erinnerungen an die Mainzer Kabarett-Legende Hanns Dieter Hüsch

Der Mainzer Kabarettist Hanns Dieter Hüsch wäre am 6. Mai 98 Jahre alt geworden. In einem Gastbeitrag erinnert sich sein früherer Manager und Wegbegleiter Jürgen Kessler an den wohl bedeutendsten literarischen Kabarettisten Deutschlands.

Erinnerungen an die Mainzer Kabarett-Legende Hanns Dieter Hüsch

Wenn man sich keine Erinnerungen schafft, kann man sich auch nicht erinnern. Dieser verblüffende Satz, in Bremen beim Whiskey nach einem Konzert (wir nannten die Auftritte ‚Konzert‘) in Theklas Bar lapidar hingestreut, stammt von Hanns Dieter Hüsch, der über vier Jahrzehnte in Mainz lebte und von da aus zum erfolgreichsten literarischen Kabarettisten der Bundesrepublik des vergangenen Jahrhunderts avancierte.

Wir saßen oft an einer Bar, damals, in den rasanten Siebzigern. Es kam vor, dass wir in der berühmten Herrgottsfrüh bei Nieselregen übers Kopfsteinpflaster zum Hotel tänzelten, beschwingt wie zwei hochtrunkene Vaganten unter einem gütigen Stern; einsam waren wir nie. Von Bühne zu Bühne, von Gedanke zu Gedanke, trieben ihn Poesie und Publikumsliebe, Ruhm- und Gelderwerb über Land, ich am Steuer, er am Bleistift, oder an seiner Overstolz; noch rauchten wir. Wo und wann immer ‚HDH’ unterwegs war, er war an der Arbeit. An seiner Phantasie- und Schreibarbeit. Zuhören-Aufschreiben-Vortragen als Konzept. Worte als Daseins-Elixier. Das Schwere leicht zu sagen, als Weltbewältigung. Das Unbegreifliche begreiflich zu machen, als literarische Übung.

Einmal saßen wir in seinem Haus in Mainz-Bretzenheim in der Küche. Marianne stand am Herd, der Gatte, den sie bei guter Laune zärtlich ‚Ielein‘ nannte, schälte und schnippelte an einer Zwiebel, als wäre sie ein Manuskript. Und tatsächlich, es ging um eine Zwiebel. Als Sinnbild in einem Text für eine Hörfunksendung im kleinen Landesstudio, das im ‚Sautanz‘, gleich hinter dem Regierungssitz des Landes Rheinland-Pfalz, untergebracht war. Ein bescheidenes wie beliebtes Nachkriegsprovisorium des späteren Südwestrundfunks. Der Termin stand fest, Redakteur Hanfgarn wartete, der Fahrer, in dem Falle ich, holte den als Sprecher mitwirkenden Autor eigens für die Live-Sendung ab. Dieser versetzte der armen Zwiebel noch einen letzten Schnitt, gleichsam den letzten Schliff für die Sprechfertigkeit seines Beitrags. Lass die Zwiebel, du musst jetzt, mahnte die Hausherrin. Ohne mich fängt es nicht an, entgegnete der aufgedrehte Künstler und wusch rasch noch die Hände. Der Text in seinem Kopf war fertig. Nicht alles stand auf dem Papier, das er in einer abgegriffenen Mappe verstaute.

Erst im Studio, als das Rotlicht zur Sendung befahl, nahm er das Blatt heraus, legte es vor dem Mikrophon parat und sprach dann drauf los, wie nur er sprechen konnte. Während sich an den Rundfunkempfängern draußen all diejenigen versammelten, die Humor und Sinnstiftung, Scherz und Herzenswärme eines Wahl-Mainzers vom Niederrhein mochten, weithin kluge, offene Menschen, die der Worthülsen überdrüssig waren und deren Sehnsucht nach verbindlicher Rede er seine unverwechselbare Stimme gab. Wer hören konnte, nahm die versteckte Botschaft wahr, die er den Zeitgenossen wie einen warmen Mantel um die kalte Schulter legen wollte, es war die Botschaft des Predigers, das Gesagte zu erhören, zu studieren, zu erkennen. Der kleine Mann mit dem holländischen Pfannkuchengesicht, wie er sich selbst leichthin beschrieb, wusste, wie man zu Menschen redet.

Hüsch sprach eigentlich immer, und immer sezierte, enthäutete er etwas, noch weit bevor Grass seine zwiebeligen Enthäutungen zu Markte trug. Wenn er schwieg und nachdachte, brach es wenig später aus ihm heraus, dann schrieb er auf, was ihm eingefallen war; seine Handschrift blieb Dritten ein Rätsel. Hüschs Schaffenskraft war bei Bühne und Funk so gefragt, dass wir uns vor Aufträgen nicht retten konnten, die Anfragen stapelten sich, oft schloss ich Verträge für die Gastspiele zwei Jahre im Voraus ab, baute die Tourneen fahrtechnisch so günstig wie möglich zusammen, buchte Hotels. Es war eine schöne, lang anhaltende Phase. Auch, weil der wahre Hüsch im Kabarett, zumal jener der produktiven Mainzer Jahre, seine Emotionen zeigte. Das unterschied ihn. Hanns Dieter war Spiel und Melancholie. War Poesie, nicht Rationalität. Literat, nicht Journalist. War Clown, nicht Witz. Anstifter für ein tieferes Empfinden unter den Menschen, Botschafter einer menschlicheren Welt, die sich nicht allein aus materiellem Verständnis zusammensetzt, in der jeder jedem hilft.

Das Leitmotiv dazu hatte er sich von Brecht geliehen: Wollt nicht in Zorn verfallen, denn alle Kreatur braucht Hilf’ von allen. Für sich, für seine Nächsten und das kleine und große Publikum, schrieb er unermüdlich seine Chansons, Gedichte und Geschichten. Ohne im Besitz des Steins der Weisen zu sein. Aber immer im Bemühen, dem Leben einen höheren Existenzsinn abzutrotzen. Öffentliches Nachdenken mit unterhaltenden Mitteln, bekannte er, sei seine Absicht. Sein Kabarett war Zwiesprache eines Dichters mit seinem Text. Vor der Schärfe bewahrte ihn die Melancholie. Vor dem Idyll der Intellekt. Vor der Rohheit sein großes Herz. Verglichen mit heute war er ein Anti-Kabarettist: ein Lyriker. Allein aus sich selbst heraus war Hanns Dieter eine zutiefst poetische Menschenseele, eine „Weltallseele“, hätte Ringelnatz gesagt. Aus diesem Geist heraus schrieb er uns sein Credo ins Stammbuch, seine Lebenskantilene: … den Hass aus der Welt zu vertreiben, ihn immer neu zu beschreiben, damit wir bereit sind zu lernen, dass Macht und Gewalt, Rache und Sieg, nichts andres bedeuten als ewiger Krieg auf Erden und dann auf den Sternen

Der 6. Mai 2023 ist das Datum seines achtundneunzigsten Geburtstages.

Gastautor Jürgen Kessler schloss 1969 den ersten Auftrittsvertrag für Hanns Dieter Hüsch ab, diente über Jahre als Fahrer und Wegbegleiter, wurde zum vertrauten, wetterfesten Freund und hatte bis Tourneeschluss 2002 sein Management inne. Im Karl Blessing-Verlag (Bertelsmann) gab er die gültige Werkbiografie Hüschs heraus: Kabarett auf eigene Faust.

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