Erinnerungen an den Erfinder des Mainzer Weinmarkts

Gastautor Jürgen Kessler über einen „historisch umfassend gebildeten, humorvollen, gelegentlich zynischen, jedenfalls immer geistreichen Mainzer“ – den Erfinder des Mainzer Weinmarkts, Dr. Robert Schmidt.

Erinnerungen an den Erfinder  		des Mainzer Weinmarkts

Am Nachmittag eines heißen Frühlingstages im spanischen Galizien luden zwei Männer einen Klappsitz, Mal-Utensilien und die Staffelei aus einem Auto und trugen sie zur Pier der Atlantikbucht von Noja; Ebbe und ein ‚malerischer‘ Sonnenuntergang waren zu erwarten. Wie beide nebeneinander her liefen, erinnerten sie an Pat und Patachon. Der eine, von kleinem Wuchs, im neunundsiebzigsten Lebensjahr, trug eine mausgraue Hose zu einem blassen blauen Hemd mit offenem Kragen. Die hohe Stirn, von einem gelockten, schlohweißen Haarkranz umringt, verlieh seinem markanten Schädel Ähnlichkeit mit jenem von Bismarck. Das Stück Süßholz im Mundwinkel, eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase, und auf dem Kopf beim Malen ein bleicher Panama-Hut, schmälerten indes den Anschein des Würdevollen. Der andere, ein schlaksiger Student Anfang zwanzig, den Älteren um zwei Kopflängen überragend, mit Oberlippenbart und dunkelblondem Langhaar, trug ein Hemd mit kleinen bunten Karos, eine verwaschene Jeans und beige Wildlederschuhe; seine Sonnenbrille hatte er zuhause vergessen. Zuhause, das war für das ungleiche Paar die Stadt Mainz, dort lernten sie sich kennen und das kam so:

Der reiselustige Herr wollte bestimmte Schauplätze in Frankreich und Spanien vor seinem Tode noch einmal wiedersehen, Orte, die er im Frieden als Weinkenner und im Krieg als Berichterstatter kennengelernt hatte. Nicht des Jakobswegs entlang sollte es gehen, für diese Art von Sinnsuche war der religionskritische Hobbymaler nicht empfänglich, aber doch bis nach Santiago de Compostela, wo der Pilgerweg am vermeintlichen Apostelgrab in einer protzig-prächtigen Kathedrale endet; das nahegelegene Fischerstädtchen Noja setzte den Wendepunkt der Reise. Er sah sich nach jemandem um, der geeignet wäre, seinen Peugeot 204 gegen ein Handgeld zu chauffieren und ihm für knapp vier Wochen bei freier Kost und Logis Gesellschaft zu leisten. Um Rat zu erhalten, suchte er eine Freundin auf. Katja Leven, rheinische Frohnatur mit großem Herz, vor dem Ruhestand im Vorzimmer von Ministerpräsident Dr. Helmut Kohl tätig, nun als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Forum-Theater Unterhaus für Buch-und Kassenführung zuständig, empfing ihn zuhause. Sie hatte sich den Fuß verknackst, als sie bei einem Walzer der schwungvollen Führung ihres Tanzpartners entglitten und zu Boden gesegelt war. Die kölsche Dame, an Fuß, Temperament und Lebensfreude ungebrochen, empfahl dem Freund ihren jungen Tänzer mit dem Seitenhieb, dieser sei zwar fürs Unpraktische begabt, besser als eine Tänzerin könne er aber ein Auto führen, das wisse sie von Ausflügen. „Bei mir muss er ja nicht tanzen“, soll der Herr geäußert haben, „außer nach meiner Pfeife.“ Bei der nächsten Gelegenheit informierte sie den nur schwach talentierten Tänzer aus dem Unterhaus-Team – und der war ich.

Begegnung im „Winzerkeller“

Im Szenelokal „Zum Winzerkeller“ kam es zur Begegnung. Katja war überrascht, den Freund in Gesellschaft sitzen zu sehen: „Da hockt ja die geballte Uni-Prominenz!“ Einem Präsiden gleich vor Kopf sitzend, war mir der ehemalige Direktor des Mainzer Verkehrsvereins bereits bekannt: Dr. Robert Schmidt hatte unlängst eine launige Laudatio auf Hanns Dieter Hüsch zur ersten Verleihung des ‚Deutschen Kleinkunst-Preises‘ gehalten. Vom Unterhaus ins Leben gerufenen, hatte ich die erste Vergabe-Satzung für das Reglement entwerfen dürfen. Mit am Tisch saßen die berühmten Rechtswissenschaftler und Professoren Hubert Armbruster und Theodor Viehweg, sowie der Mainzer Uni-Präsident Professor Peter Schneider aus der Schweiz, ein gewichtiger Teil der ‚Ehrbaren bürgerlichen Mainzer Weinzunft‘, deren Wurzel bis ins Jahrhundert Gutenbergs zurückreichen soll. Mir schwante nichts Gutes, ich bat um eine Cola. Als Jurastudent im achten Semester stellte Katja mich in ihrer unprätentiösen Manier vor, darauf bedacht, dass mich keiner für ihren jugendlichen Liebhaber halten konnte.

Während Dr. Schmidt den befangenen Aspiranten beiläufig taxierte, nur ein paar Floskeln beitrug, gaben sich die renommierten Weinfreunde als Uni-Granden, wollten wissen, was ich vom Studienbetrieb halte, wen ich aktuell höre, welches meine Ziele sind – und waren augenblicklich irritiert, als ich gestand, seit dem sechsten Semester für Vorlesungen keine Zeit mehr zu haben, mich mit Skripten eines Repetitors aufs Examen vorzubereiten, sie unterwegs nutzen würde, denn zurzeit ginge die Betreuung des Kabarettisten Hüsch vor, der träte oft in der Schweiz auf und besäße keinen Führerschein. Die Erwähnung dieses respektierten Namens hielt die professorale Empörung einigermaßen flach, mir wurden mildernde Umstände gewährt. Ein Kolloquium begann. Kulturbeflissen erging man sich über Sprache und Satire, Zeitgeist und Freiheitsmissbrauch. Dr. Schmidt hielt sich dabei zurück. Den Assistenten von Hüsch vor sich zu haben, hatte ihm positiv zu denken gegeben. Nach ausführlicher Wertschätzung des ‚Poeten der kritischen Phantasie‘, so Professor Schneider, trafen mich neue Fragen. Ob mir als Cola-Trinker Wein überhaupt zusage, ob mir der Mainzer Weinmarkt ein Begriff sei, ob ich wisse, wem die Stadt die Etablierung dieser bedeutenden Idee verdanken darf? – Zweimal ja, einmal nein – Katja rief vorlaut: „Da sitzt er, der Robert, der hat den Weinmarkt erfunden, noch in jungen Jahren!“

„Komm, darauf trinken wir jetzt ein Gläschen“

Einer am Tisch sagte: „1929, stimmt‘s? In der Weimarer Republik.“ Der Angesprochene hob mäßigend die Hand: „Kein Widerspruch, Euer Ehren, aber lasst es gut sein, es ist so lange her, dass ich überlegen müsste, aber nicht jetzt. Santé!“ Man scherzte, schüttete angeregt weiteres Wissen aus, witzelte über Lokalpolitisches, bis sich die Runde den stumm dabei sitzenden Jüngsten noch einmal vorknöpfte, mich in Fragen zur RAF verstricken wollte. Hilfe! Das Treffen hatte ich mir anders vorgestellt. Statt vom Reiseverlauf zu erfahren, lernte ich den Übermut akademischer Größen in Weinlaune kennen. Der Reiseplaner musste erahnt haben, dass ‚Abhauen!‘ auf meiner Stirn stand, beim Gang zur Toilette beugte er sich herab: „Über unser Vorhaben reden wir morgen in Ruhe. Besuchen Sie mich zur Kaffeezeit. Gut so?“ „Ja, ist gut.“ Die kölsche Kupplerin triumphierte: „Na bitte, et klappt! Prima. Komm, darauf trinken wir jetzt ein Gläschen, ich lade dich ein.“

An einem Tag Mitte Mai starteten wir. El Comandante mochte keine mautpflichtigen Autobahnen, wir befuhren ausschließlich Straßen ab zweiter Ordnung, vom ADAC zusammengestellt. Über die Pfalz ging es durch beschauliche Landschaften zu Denkmälern und Schlachtfeldern, großartigen Schlössern und Weingütern, Kathedralen, Burgen und Gräbern, alles wurde besichtigt, jede Nacht schliefen wir in einem anderen billigen Hotel. Hin und wieder lenkte er sein Auto selbst, was ihn nicht abhielt, mir Vorträge über Parapsychologie und Malerei, über Weinbau und Architektur, Kunst- und Kirchengeschichte, Politik und Kriegsstrategien zu halten. Auf den schmalen Serpentinen der Sierras referierte der Senior bei dreißig Grad im Schatten Details vom spanischen Bürgerkrieg, kenntnisreich wie ein Kriegsberichterstatter. Er war ein historisch umfassend gebildeter, humorvoller, gelegentlich zynischer, jedenfalls immer geistreicher Mainzer, dem der Südwestfunk sogar eine eigene Hörfunkreihe eingeräumt hatte, weil er den rheinhessischen Dialekt amüsant kultivierte, und dem Menschenschlag am Mittelrhein aus dem Herzen sprach. Aus stadtnaher Position heraus hatte er tatsächlich den Mainzer Weinmarkt als heimische Marke mit überregionalem Wirtschaftsinteresse auf die Beine gestellt, schuf dazu eine Tanzpantomime: „Wein-Doktor Faustus“, führte sie mit hundertdreißig Laiendarstellern auf. Obwohl er als Politikwissenschaftler promoviert wurde, beruflich als Mann der Werbung und Organisation sich stets handfesten Alltagsbelangen nüchtern zu widmen hatte, zog es ihn mit Macht zu Kunst und Kultur und am wenigsten zur Macht der Politik und ihren Posten. Schon wegen der Haare war ich für ihn ein Apo-Typ. Die hatte er gefressen. ‚Apo-Kalyptiker‘ alle, warf er unsere Generation samt und sonders in einen Topf, andauernd Form mit Inhalt verwechselnd, unfähig, Riesling von einem Silvaner zu unterscheiden, wir hätten viel Meinung, aber wenig Ahnung, machten Geschiss um Nonsens. Er liebäugelte mit einer Art volks- und verantwortungsgebundener Demokratur, auch mit der Diktatur Francos. Trotzdem gelang es uns, die Kurve zu kriegen, ich wollte von ihm lernen und er traktierte mich als den Sohn, den er nicht hatte. Aber am Zielort genossen wir friedlich die stille Poesie eines Sonnenuntergangs an den Gestaden des Atlantiks, kitschig und wunderbar.

Nach zwei Ruhetagen begann die Rückfahrt über die Höhen der kühlen Pyrenäen. Im Jahr darauf wollte ich pünktlich das erste juristische Staatsexamen ablegen. Für den Fall eines Scheiterns reifte während der Fahrt eine Behelfs-Idee. In der Weinstadt Beaune trug ich sie beim letzten gemeinsamen Abendessen vor und fragte, ob er bei Oberbürgermeister Fuchs ein gutes Wort für mein Vorhaben einlegen könne, ich wäre an der Stadt als Verpächter des Standorts interessiert. „Kneipen-Plan typisch für einen Langhaarigen mit zwei linken Händen“, spottete er, und genoss seine sauren burgundischen Kutteln bei einer Flasche Chablis. „Naja, der Name klingt ganz sympathique, on verra. À votre santé.“ „Merci!“ freute ich mich, und erhob mein Glas: „Vive la France! Vive le ‚Quartier Mayence‘.“ Aber das ist eine andere Geschichte.

Gastautor Jürgen Kessler musste vor der Reise seine Fahrsicherheit unter Beweis stellen. An einem grauen Apriltag 1973 durfte er das Ehepaar Schmidt in deren PKW zum Kauf von Frankenwein nach Sommerhausen chauffieren. Auf dem Rückweg kehrte man in die Autobahnraststätte Würzburg ein, dort gäbe es eine vorzügliche Gemüsesuppe. Auch die überstand der Fahrer unfallfrei.

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