„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Mit dieser Maxime machten wir im Jurastudium an der JGU Mainz zu einer Zeit theoretische Bekanntschaft, in der die Bundesregierung sie in politische Praxis setzte, quasi als gültigen Lehrsatz verifizierte. Ob der wissenschaftliche Urheber Carl Schmitt, ein kühler Machttheoretiker, der bis heute trotz nationalsozialistischer Kontaminierung ein viel zitierter Gelehrter des Staats- und Völkerrechts geblieben ist, als praktisches Beispiel anno 1922 an ein Fahrverbot für privat genutzte Kraftfahrzeuge gedacht hat, dürfte indes unwahrscheinlich sein.
Aber er durfte vor fünfzig Jahren noch selbst erleben, wie der „Souverän“ – die Bürger der Bundesrepublik Deutschland – statt aufgeklärt und zu eigenverantwortlichem Tun und Lassen angeleitet zu werden, vom Staat pauschal bevormundet wurde. Die Annahme, damals sei die Blaupause für heutige Zeiten gezeichnet worden, fällt nicht schwer. Der Ausnahmezustand wurde bewusst auf einen Sonntag gesetzt, in Mainz und überall im Land. Überall? Nein. Die Deutschen jenseits von Mauer und Stacheldraht erlebten den 25. November 1973 wie jeden anderen Sonntag.
Nicht nur Geld regiert die Welt, auch Angst kann das gut
Nicht die kommunistische Diktatur in Ostberlin hatte die Freiheit auf Rädern suspendiert, sondern die Macht am Rhein, die sich von der Öl-Krise in eine Art Panikmodus treiben ließ. Die Erdöl fördernden Länder (Opec) hatten ihr begehrtes Produkt als Hebel zur Erreichung politischer und pekuniärer Ziele entdeckt, der „Spiegel“ vermutete die USA als Drahtzieher hinter den Kulissen. Jedenfalls besorgte sich die Bonner Regierung im November eine eilends zusammengestrickte Legitimation vom Bundestag, Grundgesetz hin oder her. Unsereins hielt den fragwürdigen Aufriss für hysterische Symbolpolitik. Wir lernten: nicht nur Geld regiert die Welt, auch Angst kann das gut.
Hinter dem „Eisernen Vorhang“ gab es keinen Ölpreis-Schock. Die Satellitenstaaten der Sowjetunion wurden mit billigem Sprit gut versorgt. Ich erinnere mich, an einer Minol-Tankstelle zwischen Magdeburg und Berlin für glatte 56 Pfennig (30 Cent) pro Liter getankt zu haben. Ein weiterer Unterschied: Die DDR brachte nur einen Bruchteil dessen auf ihre maroden Straßen, was im Westen tagein, tagaus über Land rollte. Den begeisterten Automobilisten, mir auch (ich nannte einen schilfgrünen 2CV mein eigen), war der vielfältige und bunte Verkehr recht. Schließlich stand unsere motorisierte Beweglichkeit ganz oben auf der Skala des Erstrebenswerten. Und sie war längst zur selbstverständlichen Normalität geworden. Individuelle Freiheit, Spaß und soziale Notwendigkeit, rollten auf allen Rädern mit, brachten Gewinn und Fortschritt. Besonders stolz war man auf den guten Stern aus Stuttgart, damals noch voll und ganz in deutscher Hand.
Mainz wirkte wie ausgestorben
Jener nasskalte Totensonntag führte auf einen Schlag das Gegenteil dieses Wohlstands vor Augen. Mainz wirkte wie ausgestorben, das war gespenstig und schön zugleich. Zum Friedhof wurde bereits am Samstag gefahren. Viele Verwandtschaftsbesuche und soziale Kontakte unterblieben, es sei denn, man ging zu Fuß, fuhr mit Bahn, Bus oder Taxi, denn die blieben als öffentliche Verkehrsmittel vom Fahrverbot verschont. Stieg wer nach achtzehn Uhr in das Mercedes-Taxi Nummer Drei ein, saß am Lenkrad der Autor dieser Zeilen – als Werkstudent mit Personenbeförderungsschein. In dieser Nacht nahezu ungehindert durch die Innenstadt zu flitzen, spendierfreudige GI-Amis von den „Lee“ zu den „McCally Baracks“, oder wohin auch immer flott wie nie zu transportieren, war das reinste Vergnügen.
Wer allerdings erwartet hatte, das Geschäft seines Lebens zu machen, sah sich getäuscht: Es gab für alle zu tun, doch die Nachfrage blieb überschaubar. Veranstaltungen am stillen Gedenktag gab es nicht, viele Gastwirte ließen ihr Lokal zu, so häuften sich Leerfahrten und Pausen. Die Einnahmen blieben hinter dem zurück, was in Dauerbetriebs-Nachtschichten wie an Weihnachten, Silvester und Fastnacht üblicherweise anfiel. Dafür spazierten unverdrossene Mainzer bis in die Nacht durch ihre leere Gassen. Das Fahrverbot wurde ohne Murren angenommen. Der Deutsche lebt nun mal gerne betreut.
Ölkrise platzte in eine Alles-ist-möglich-Ära
Bei Fahrgästen und in den wenigen offenen Kneipen der Stadt war das Thema virulent, auch von diffusen Gefühlen beherrscht: Zeitenwende. Das Datum dämmerte vielen als Zäsur im wirtschaftlichen Fortkommen: Es dokumentierte Verwundbarkeit. Unsere deutsche Abhängigkeit von Rohstoff- und Energieimporten fiel wie ein Schatten auf die noch nicht überall beschmierten Fassaden. Man sah eine behütete Epoche zu Ende gehen, jene, die anfangs auf Weißwandreifen daher gerollt kam, in der prahlende Herren mit Hut und dicker Zigarre schmucke Karossen im „Wir sind wieder wer!“-Modus durch das Wirtschaftswunderland des Westens lenkten und, nicht nur nebenbei bemerkt, reflektorisch ihre Frauen am Steuer als Gefahr für die freiheitlich-demokratische Straßenverkehrs-Ordnung ansahen. Tatsächlich gab es vielerorts weibliche Wesen, die bei einem Witz über das Wort „Stoßstange“ noch erröteten und in Kichern ausbrachen; es waren dieselben, die der Miederwaren-Industrie als Füllmaterial für überflüssige Produkte dienten. Dieselben, denen „Bunte Illustrierte“ als Informationsquelle genügten und die mit ihren Müttern grübelten, ob Wäsche reiner als rein herauskäme, wenn sie dieses oder jenes Waschmittel nutzten; allen voran wusste „Bauknecht“, was Frauen wünschen und ihre Männer glaubten das.
Dagegen half auch keine vernünftige Schulbildung, die es tatsächlich noch gab. Wie heutzutage herrschte die genaue Unkenntnis der Dinge vor. Die Ölkrise platzte in eine Alles-ist-möglich-Ära. Chemie und Plastik standen in hoher Blüte. Kunststoffe aller Art hatten die Haushalte erobert. Es gab abwaschbare Plastikrosen, Handfeger mit PVC-Borsten, Kleider aus Perlon, Hemden aus Nyltest, Kindersandalen aus Plastik, Kaffeetassen aus Polyäthylen und vieles mehr. Leider fing das Zeug in greller Sonne an zu stinken und vom Sitzen auf Kunstleder bekam man – wie in manchem Taxi – einen feuchten Hintern, aber: es war „modern“.
Erinnerung an Herbert Bonewitz
Der „Club of Rome“ haute uns im selben Jahr die „Grenzen des Wachstums“ um die Ohren. Ich las das apokalyptische Büchlein druckfrisch und gläubig. Befreundet mit dem Liedermacher-Duo „Schobert & Black“ behauptete ich, das globale Thema Umwelt müsse unbedingt im nächsten Programm vorkommen! Alsbald nahm Schobert mich für Ideen und Skizzen zwei Tage auf die Burg Waldeck im Hunsrück mit. Der Stoff stellte sich als sperrig und für Gesang zu spröde dar. Um auf einen lustigen Nenner zu kommen, packten wir die Umweltthemen in die dialogisierten Ansagen der Lieder. Andere Texte entstanden. Auch meine Vorlage für den Song „Der Sympathisant“. Darin führten wir regierungskritische Geister als Störenfriede der Macht ironisch vor. Politik und Medien sorgten unisono für die Desavouierung des Begriffes, einem „Sympathisanten“ der APO (außerparlamentarischen Opposition) durfte nichts Sympathisches mehr anhaften.
Ähnliches widerfährt heute dem Karl Valentin-Gütesiegel „Querdenker“; der großartige Herbert Bonewitz, der heute am 9. November neunzig Jahre alt geworden wäre, war übrigens auch einer. Dankend blicke ich an dieser Stelle auf eine siebzehnjährige Zusammenarbeit mit dem „Volkskabarettisten“ zurück. Verächtlichmachung erspart inhaltliche Auseinandersetzung. Wir erleben es täglich. Damals, das muss zur Ehrenrettung der bürgerlichen Zeitgenossen unter den „Sympathisanten“ hinzugefügt werden, hatte die „Baader-Meinhof-Bande“ sich noch nicht als militante RAF verrannt, sich noch nicht als eiskalte Mörder entpuppt. Die Kulmination der Gewalt, der sogenannte „Deutsche Herbst“, stand uns noch bevor.
Bundesbürger mutierten zu „Verbauchern“
Verknappungen, Verteuerungen kamen, analytische Köpfe äußerten böse Vorahnungen, aber das Leben ging weiter und der menschliche Hang zum Vergessen ließ, wie immer bei Otto Normaluntertan, nicht lange auf sich warten. Consumo ergo sum – die Bundesbürger mutierten zu „Verbrauchern“, eine Klassifizierung der Medien; in heutigen Nachrichten ist nur noch von „Menschen“ die Rede. Sich vom Öl schrittweise industriell unabhängig zu machen, wäre schon damals keine schlechte Idee gewesen, aber sie ging im normativen Saft des Faktischen, in fehlender Witterung der erkennbar einsetzenden Marktverschiebungen, in politischen Rivalitäten, in unternehmerischer Sturheit und in einer im Wortsinne „unbekümmerten“, auch phantasielosen Verwaltung unter. Waren Unternehmer in den Fünfzigern und Sechzigern noch Helden, wurden sie jetzt geschmäht. Robuste Persönlichkeiten wie Max Grundig oder Wolfgang Grupp wuchsen immer weniger nach. Dafür gingen immer mehr Esel aufs Eis tanzen. Es war bequemer, den Scheichs mehr zu zahlen, als traditionellen Ingenieurs- und Erfindergeist zu stimulieren. Die Warnglocken verhallten klanglos. Es ist – wie bei den großen Poeten – das ewig alte Lied: Seismographen schlagen wohl aus, aber es ist nicht an ihnen, das als drohend Erkannte zu verhindern. Obwohl alles was uns schaden kann, bereits existierte, benannt werden konnte.
Wegweisende, mahnende, liebevolle Worte der Dichter, wozu ich den Text unserer Nationalhymne zähle wie auch die Weisheit hoher Amtseide, hält der gemeine Parteipolitiker für Folklore, so ernstzunehmen wie die unleserliche Programmlyrik seiner eigenen Partei. Lieber lassen sie den Staatsapparat auf allen Ebenen Vorschriften wie am laufenden Band ausspucken, als gäbe es bei der EU Mengenrabatt dafür. Gleichzeitig hält man sich selber nicht an bestehendes Recht, nicht einmal von Staats wegen. Wen wundert dann noch das Leiden des Landes an Verirrung, Verstopfung, Verrenkung und Verdrängung? Wer wollte, konnte schon früh die Haarrisse im Fundament unseres Staatsgefüges erkennen; echte Satire, das nachdenkliche analytische politisch-literarische Kabarett großartiger Nachkriegsautoren lebten davon.
Tingel-Tangel-Lokalitäten in Mainz
Notabene: Ein unerwarteter Ruf zum Nachtclub „Casino de Paris“, überraschte mich, der war doch zu!? Vor dem Eingang in der Großen Bleiche stand an diesem Totensonntagabend Jana, eine junge Serbin, reizend und intelligent. Eigentlich meldete sie sich spät, nach ihren Striptease-Einlagen. Als Studenten, die sich mit Jobs im Nachtleben über Wasser hielten, hatten wir uns bei einer der Fahrten angefreundet. In jener Zeit gab es in Mainz noch Tingel-Tangel-Lokalitäten. Für erwachsene Nachtschwärmer, nervöse Großstadtgeister, Gäste der Stadt. Das „Casino de Paris“ präsentierte lustiges Varieté und leicht frivole Showprogramme – ohne Vulgarität. An einheimischer weiblicher Gesellschaft fehlte es nicht. Es gab verführerische Bardamen, darunter Frauen im Nebenerwerb, lebenserfahren und verschwiegen. Der Taxi-Nachtdienst hat sie in den frühen Morgenstunden gut nach Hause gebracht. Zwei Inhaberinnen durfte ich als Nachbarinnen im selben Wohnhaus bereits in der Jugend kennenlernen, eine davon als Mutter eines Freundes. Elegante Schönheiten, charmante Gesellschafterinnen, bei denen in intimer Atmosphäre tatsächlich mancher prominente Mainzer sein Herz ausgeschüttet hat. Es ging in den gepflegten Etablissements jener Tage meist um anregende Unterhaltung, weniger um direkten Sex; mag sein in manchem Separee – und wenn schon! Der Mainzer Kulturkabarettist Hanns Dieter Hüsch bezog dazu eine tiefsichtige Einstellung: wie liebenswert eine Stadt sei, mache der Umgang ihrer Einwohner aus, wie lebenswert, zeige sich an ihrem Nachtleben.
Jana stieg ein. Sie verbarg auf ihrem Schoß in einem Bündel Stoff ein zuckersüßes silbergraues Kätzchen! Tapsig, drollig, purzelte es auf ihren Oberschenkeln herum, fiepte, rappelte sich auf, und guckte ausgerechnet mich dabei mit aufgerissenen Augen an: flehend, wackelig, unwiderstehlich. „Wir feiern Geburtstag, Kollegin hat Laden privat, geschlossene Gesellschaft. Sie verschenkt Tierchen, von Mama Hauskatze. Süß, aber kann es nicht behalten, fahr zum Tierheim bitte.“ Diese Botschaft muss das Kätzchen verstanden haben: es maunzte erbärmlich zum Himmel. Hatte es Angst? Vermutlich nur Hunger und Durst. Egal, es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick, dagegen kann man nichts machen. „Ach, weißt du was?“ entschied ich, „lass mir das Bündel da, ich behalte es, das Baby ist wirklich zu süß. Wird schon klappen, wir haben Platz. Ich fahr direkt nach Hause, mein Mitbewohner wird sich fürs Erste kümmern, der mag Tiere.“ Jana freute sich über die schnelle Lösung und stieg wieder aus: „Ruf dich später!“ lächelte sie. Nach einer Erfrischung gegen Mitternacht in Janas Apartment zog sich die außergewöhnliche Taxinacht bis morgens um sechs noch hin. Zuhause in meiner Wohnung fand ich das Kätzchen in einer Sofaecke. Nach einer kurzen Spielerei bekam es ein frisches Handtuch, darauf durfte es am Fußende meines Bettes schlafen. Als „Bündel von Jana“ blieb es ihr Miezenleben lang bei mir.
Gastautor Jürgen Kessler verdiente sich den Lebensunterhalt für sein Studium vier Jahre lang als Taxifahrer und Tourneeleiter, im Unterhaus und als Kleindarsteller bei der Taunus-Film GmbH in Wiesbaden. Als für eine TV-Produktion eine Fußballmannschaft benötigt wurde, trommelte er aus dem Mainzer Taxi-Nachtdienst eine passende Anzahl Männer zusammen; der Dreh mit den Sportsfreunden geriet überzeugend. Man hilft ihnen ja gerne, den Wiesbadenern.
Anmerkung der Redaktion: Das Titelbild stammt aus dem Jahr 1975.