Entwürdigt, entrechtet – und selbst vergiftet: Das tragische Ende einer Mainzerin

Wenige Tage vor ihrem 81. Geburtstag vergiftete sich Emma Neumann selbst – in ihrer Wohnung in der Kaiserstraße 27. Die einst wohlhabende Mainzerin lebte verarmt und einsam in ständiger Angst vor den Nazis. Ein gekürzter Text von Wolfhard Klein.

Entwürdigt, entrechtet – und selbst vergiftet: Das tragische Ende einer Mainzerin

Einer der neuesten Stolpersteine, die in Mainz verlegt wurden, erinnert an Emma Neumann – vor der Kaiserstraße 27. Sie hatte sich dort, entwürdigt und entrechtet, am 3. April 1939 selbst vergiftet, wenige Tage vor ihrem 81. Geburtstag.

Emma Neumann war eine Tochter des Weinhändlers Max Gutmann. Der stammte aus Groß-Rohrheim, war mit einem Stipendium in Mainz zur Schule gegangen und hatte hier seine Ausbildung absolviert. 1853 gründete er eine eigene Weingroßhandlung in der Großen Bleiche 41 (heute Lidl) und zog 1879 in die Kaiserstraße 32. Die Gutmanns dürften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Mainzer Familien gehört haben, unter anderem mit Verbindungen zum russischen Zaren.

Englische Königin Victoria war zu Gast

Emma war das vierte Kind der Familie. Sie hatte vier Brüder und fünf Schwestern. Ihr Bruder Siegfried trat in die Geschäftsleitung des väterlichen Betriebs ein und ging 1889 nach New York. Joseph und Carl wanderten nach Australien beziehungsweise New York aus. Wenn sie Mainz besuchten, war Emma Neumann, wie sie nach ihrer Ehe hieß, die Gastgeberin. Emmas Schwestern heirateten standesgemäß: Bertha etwa einen Generalbevollmächtigten der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft. Jenny wurde 1893 Gastgeberin eines Essens für die englische Königin Victoria und deren Tochter Vicky in ihrer Wohnung in der Kaiserstraße. Emma war lebenslang die Klammer, die den Familienverbund zusammenhielt.

Emma Gutmann heiratete 1881 den Weinkommissionär und Weinhändler Bernhard Neumann, der aus Stadecken stammte und in Mainz die Schule besucht hatte. 1867 gründete er eine eigene Weingroßhandlung, die Firma M. Neumann & Sohn. Als er 1889 in Mainz eingebürgert wurde, waren Emmas Töchter Luise (Lilly) und Margarethe (Gretel) sieben und drei Jahre alt. Die Familie lebte zunächst am Firmensitz, der Emmeransstraße 41, bis im November 1898 das Haus Kaiserstraße 27 erworben wurde, in das Familie Neumann am 15. März 1899 einzog. Es lag schräg gegenüber der Weinhandlung ihrer Eltern.

Familie gehörte dem gehobenen Bürgertum an

Emma Neumann unternahm mit ihrem Mann mehrere Reisen, unter anderem nach San Remo in Italien, in die Schweiz und in den Schwarzwald. Sie kurte in Bad Ems und Bad Schwalbach. Die Familie hatte viele, auch christliche, Freunde, zum Beispiel die Gunderlochs und die Deiters, mit denen im Ratskeller Silvester gefeiert wurde. Bernhard Neumann starb am 14. Januar 1904. Er war erst 56 Jahre alt.

Auch die Familie Neumann war im Weinhandel verwurzelt. Tochter Lilly (Luise) etwa verbrachte 1901 mehrere Monate bei der Familie Börner in Leipzig, die bis zur Arisierung die Hotels „Kaiserhof“ und „Continental“ betrieb, die ersten Häuser am Platz. Emma kümmerte sich um ihre Familie, auch in der Zeit des Naziterrors.

Emmas Töchter besuchten die höhere Mädchenschule in Mainz, heute das Frauenlobgymnasium. Sie nahmen von Kindheit an am gesellschaftlichen Leben des gehobenen Mainzer Bürgertums teil und heirateten entsprechend. Lillys Tagebücher zwischen 1895 bis zu ihrer Flucht 1937 sind (mit Lücken) erhalten, sie geben einen tiefen Einblick in das Leben der Familie Neumann und des Mainzer Großbürgertums. Ihr und ihren drei Söhnen gelang die Flucht nach Argentinien, Rhodesien (Simbabwe) und in die USA. Gretel, Emmas zweite Tochter, heiratete Professor Julius Goldstein, der den „Morgen“ herausgab, eine Monatsschrift der liberalen Juden in Deutschland. Nach dem Tod ihres Mannes gab sie die Zeitschrift bis zu ihrer Flucht nach England weiter heraus.

Briefe halten die Schikanen und des Nazi-Terrors fest

Briefe von Emma Neumann an ihre Tochter Gretel, geschrieben zwischen November 1938 und März 1939, sind erhalten. Ihre Briefe sind Dokumente der Schikanen und des Nazi-Terrors, aber auch Beleg für ihren Kampf um ihre Familie, deren Zusammenhalt, und um ihr Eigentum. Am 12. November 1938, nach der Zerstörung ihrer Wohnung in der Pogromnacht, schrieb sie: „Ich kam mir vor wie Hannibal auf den Trümmern Karthagos [...] vor allem der Glaser hat viel Arbeit gehabt.“ Sie erwähnt auch, dass ihre Nichte Babette (Rosenthal, geb. Beringer) zu ihr gezogen sei, weil sie wegen der Nazi-Übergriffe nicht in Oestrich-Winkel bleiben konnte.

Eine Woche später schrieb sie unter anderem: „Karl Neumann und der junge Sohn 'verreist', wie 1.000 andere.“ Verreist bedeutete, dass sie in einem KZ waren. Auch ihre Nichte Elisabeth Bing wurde in Theresienstadt umgebracht, ebenso wie deren Mann, Dr. Ernst Mayer. Teile der von den Nazis beschlagnahmten Kunstsammlung des Ehepaares finden sich heute im Landesmuseum Mainz.

„Der Gedanke, arm zu meinen Enkeln zu kommen, ist mir schrecklich“

Die Briefe zeigen, dass Emma Neumann wusste, was um sie herum passierte. Sie schrieb aber auch, dass sie nicht fähig sei, die nötigen Schritte für eine Flucht einzuleiten. Sie hatte ihren Pass abgeben müssen und die (Juden-)Kennkarte nicht bekommen. Am 20. November 1938 schrieb sie: „Stühle sind auch noch da, Spiegel keine mehr, aber es ist gut, wenn man sich nicht darin sehen kann [...] Der Gedanke, arm zu meinen Enkeln zu kommen, ist mir schrecklich.“

Sie schrieb von Flucht, aber auch von Besuchen, die sie bekam, auch von Nichtjuden wie den Deiters. Sie informierte ihre Tochter über die Situation von Verwandten und Freunden und versuchte, finanzielle und Steuerangelegenheiten zu regeln – und sie bemühte sich, das Haus in der Kaiserstraße zu verkaufen, weil sie ihre Kinder in England und Argentinien unterstützen wollte. Ihre Berater waren der ehemalige Bürgermeister und spätere Mainzer Oberbürgermeister Dr. Emil Kraus und der 1933 von den Nazis entlassene ehemalige Sparkassendirektor Heinrich Dietz.

Immer wieder traf sie sich mit ihren Schwestern und bewirtete sie. Über Jenny Saarbach schrieb sie am 24. Dezember 1938: „Heute gibt es Hasenziemer (Hasenbraten), wozu ich Jenny eingeladen habe, denn die soll doch auch etwas Gutes haben. Wo sie ist, ist's eben sehr knapp. Fleisch bekommt sie überhaupt nicht oder kaum zu sehen.“ Im selben Brief schrieb sie über ihre Situation: „Diesmal muss ich das Letzte, das ich noch auf der Bank habe, flüssig machen, um alles bezahlen zu können, na, es wird schon weitergehen.“

Emmas Gesundheitszustand wird schlechter

Am 7. Februar 1939 beschrieb sie ihren schlechten Gesundheitszustand, die Schwierigkeiten, Medikamente zu bekommen. Medizinisch versorgt wurde sie in ihren letzten Monaten von Dr. Ernst Mayer, dem Ehemann ihrer Nichte Elisabeth Bing, dem das Haus Ernst-Ludwig-Str. 8 bis zum Zwangsverkauf gehörte. Immer wieder berichtete sie über den Verlauf von Treffen mit ihren Schwestern und anderen Verwandten. Sie informierte ihre Tochter über Fluchtziele von Familienmitgliedern und darüber, wie es ihnen ging. Sie beschrieb auch die immer neuen Schikanen des Nazi-Staates, etwa, dass ab April 1939 Rechtsanwälte oder Treuhänder nicht mehr für Juden arbeiten durften.

Am 1. März 1939 schrieb sie: „Wenn ich Dir sage, dass ich nicht viel länger leben möchte, so darfst Du mir das nicht übelnehmen, meine liebe Gretel, (dies aber nur unter uns), denn ich muss doch recht viel Schmerzen erdulden, & besser wird’s wohl kaum noch werden, denn es geschehen ja keine Wunder mehr!“ Und am 28. März 1939: „Dürr bin ich schon seit langem & zum Essen muss ich mich meist zwingen, möchte aber aus bestimmten Gründen noch eine kurze Zeit aushalten.“

Am 3. April 1939 flüchtete sie in den Tod. Emma Friederike Neumann geb. Gutmann wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Zuletzt lebend gesehen wurde sie am 2. April 1939 um 20:15 Uhr. Am 11. September 2024 wurde in Erinnerung an sie vor dem Haus in der Kaiserstraße 27 ein Stolperstein verlegt.

Der Text ist die gekürzte Version des zunächst im „Mainz-Vierteljahreshefte“ erschienenen Artikels von Wolfhard Klein. Die Hefte erscheinen bei Agentur & Verlag Bonewitz.