An einem Mittwochvormittag im Oktober 2023 will die Mainzer Tanzlehrerin Emma Hufnagel (34) mit einer Freundin eigentlich nur zu ihrer üblichen Jogging-Runde im Wetteraukreis aufbrechen. Doch dann kommen die beiden einem Sexualstraftäter auf die Spur und decken einen jahrelangen Missbrauchsfall auf. Für ihren Einsatz wurde Hufnagel vergangene Woche mit dem „XY-Preis – Gemeinsam gegen das Verbrechen“ ausgezeichnet (wir berichteten). Wie sie die Preisverleihung und den Vorfall im Wald erlebt hat, darüber hat die 34-Jährige jetzt mit Merkurist gesprochen.
Merkurist: Was ging damals im Wald in Ihnen vor? Wie haben Sie die Situation erlebt?
Emma Hufnagel: Direkt am Anfang unserer Joggingrunde sind wir an einem Pärchen vorbeigelaufen, einem Herrn mit einem jüngeren Mädchen, vielleicht zwischen zwölf und 15 Jahre alt. Das war irgendwie merkwürdig, weil er sie so komisch an der Hüfte gehalten hat. Es war nicht dieses Vater-Tochter-Bild. Deshalb haben wir gedacht: „Hey, komm, wir joggen noch mal zurück.“ Dann hatte er sie bereits an der Hüfte in den Wald reingestoßen und sie hat dabei gekichert. Wir haben ihnen zugerufen und gefragt, ob alles in Ordnung ist.
Wie haben die beiden darauf reagiert?
Der Mann hat gesagt: „Ja, alles gut, die hat nur ihre Tage.“ Eigentlich macht keiner diese Aussage, der ein bisschen sensibel ist. Als wir ihnen dann gesagt haben, dass sie mal aus dem Gebüsch rauskommen sollen, meinte er: „Voll gut, dass es Leute gibt, die auf ihr Umfeld achten.“ Das war alles ziemlich merkwürdig. Wir hatten uns von Anfang an gewundert, warum das Mädchen nicht in der Schule war. Aber offenbar war an ihrer Schule pädagogischer Tag, das hat sie uns sogar auf ihrem Handy gezeigt. Wir haben dann noch einmal gefragt: „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Aber auch das Mädchen hat immer wieder gesagt, dass alles gut sei. Auf mich hat sie schon einen leicht genervten Eindruck gemacht, sie hatte die Arme verschränkt. Dann sind wir wieder losgejoggt, aber das war immer noch komisch in unserem Bauchgefühl. Schließlich haben wir entschieden, noch mal zurückzulaufen und zu versuchen, alleine mit dem Mädchen zu reden.
Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben einfach gefragt. Darauf meinte er: „Ja klar, kein Ding“ – und hat sich 20 Meter weiter hingestellt und mit seinem Handy gespielt.
Welchen Eindruck hat das Mädchen auf Sie gemacht?
Als wir sie gefragt haben, ob sie irgendwas macht, was sie nicht will oder ob sie für irgendwas Geld kriegt, sagte sie nur immer wieder: „Nein, es ist alles gut.“ Es machte aber alles einen so merkwürdigen Eindruck. Deshalb haben wir nachgebohrt und gefragt, woher sie den Mann kennt und wie lange schon. Da hat sie gesagt: „Ich habe den vor zwei Jahren im Internet kennengelernt.“ Bei dieser Aussage haben bei mir direkt die Alarmglocken geläutet. Ich war ja auch mal jung und war früher auf „Wer kennt wen“ oder „MySpace“. Und zusammen mit diesem Altersunterschied hat man direkt ein komisches Bild vor Augen.
Haben Sie selbst auch solche Erfahrungen im Internet gemacht?
Als ich jung war und mich dann einer angeschrieben hat mit: „Cooles Foto, du siehst ja voll erwachsen aus“, fand ich das toll und dachte: „Oh Gott, ein älterer Mann mag mich.“ Im Nachhinein finde ich das einfach nur eklig. Der hatte auch gefragt, ob ich ihm andere Fotos schicken kann. Ich hatte aber keinen Bock, Fotos zu machen. Damals war es auch noch aufwendiger mit Kamera, SD-Karte und Computer. Heute geht das mit einem Klick auf dem Handy.
Mit dieser Erfahrung sind Sie wahrscheinlich nicht die einzige. Wie haben Sie reagiert, als das Mädchen Ihnen von der Internetbekanntschaft erzählt hat?
Sie hat uns auch erzählt, wo sie herkommt und dass sie zusammen mit seinem Auto in den Wald gefahren sind, das stünde auf dem Parkplatz. Dann haben wir ihr gesagt, dass sie sich sofort bemerkbar machen soll, wenn irgendwas ist, und haben uns auf den Weg zum Parkplatz gemacht. Das Ganze hat uns nicht mehr losgelassen. Sein Auto konnten wir relativ schnell erkennen, denn dort standen nur drei. Eins davon war meins, das zweite gehörte einer anderen Joggerin und das dritte hatte ein fremdes Kennzeichen. Das Auto war ganz verschrammelt und versifft, innen drin waren zwei Kindersitze und ganz viel Spielzeug. Vorne auf dem Armaturenbrett lag ein Medikamentendöschen, auf dem ein Name – wahrscheinlich der des Mannes – und ein Geburtsdatum standen. Jetzt hatten wir nicht nur seine Beschreibung, sondern auch den Namen. Das war für uns der Moment, die Polizei zu rufen.
Und die hat direkt reagiert?
Die haben sofort gesagt: „Warten Sie dort, wir schicken einen Polizisten in Zivil vorbei und eine Streife hinterher. Bleiben Sie auf dem Parkplatz, behalten Sie das ungleiche Paar im Blick und machen Sie sich bemerkbar, wenn der Polizist dann kommt.“ Gesagt, getan. Als der Polizist kam, haben wir ihm noch mal die Beschreibung gegeben. Dann ging er in den Wald und kam zehn Minuten später mit dem Herrn in Handschellen wieder raus. Das Mädchen saß dann hinten im Streifenwagen.
Wie hat sich das für Sie angefühlt?
Erstmal dachte ich nur: „Oh krass, da muss mehr passiert sein.“ Es war ein ziemlicher Schock. Aber andererseits war es auch die Bestätigung dafür, dass es gut war, die Polizei zu rufen.
Offensichtlich: Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der 47-jährige Mann nicht nur das 15-jährige Mädchen zwei Jahre lang missbraucht, sondern auch schon andere Kinder und Jugendliche im Visier gehabt haben soll.
Genau, er ist in mehreren Dutzend Fällen angeklagt. Das war auch noch mal ein Zeichen dafür, dass wir richtig gehandelt haben.
Eine große Bestätigung dürfte da wahrscheinlich auch der XY-Preis gewesen sein. Wie genau kam es dazu, dass Sie damit ausgezeichnet wurden?
Als wir zwei Tage nach dem Vorfall auf der Polizeistation waren und unsere Zeugenaussage gemacht haben, haben die uns gesagt, dass sie uns gerne für den XY-Preis vorschlagen würden. Ich selbst wusste erstmal gar nichts von dem Preis, ich kannte nur die Sendung „Aktenzeichen XY“ von früher. Um Ostern rum hat die ZDF-Redaktion angerufen und gefragt, ob sie unseren Fall verfilmen kann. Im Sommer lief die Sendung, in der unser Fall vorgestellt wurde. Und jetzt in den Herbstferien kam der Anruf: „Sie haben gewonnen.“ Letzte Woche Montag waren wir in Berlin und haben den Preis von Bundesinnenministerin Nancy Faeser in die Hand gedrückt bekommen. Das war echt schön, in dem Moment war ich richtig stolz.
Ausgezeichnet wurden ja nicht nur Sie und ihre Freundin, sondern auch eine dritte Frau, die in den Vorfall verwickelt war. Wie lief das damals ab?
Wir kannten die Dame schon aus unserem Dorf im Wetteraukreis, sie ist schon etwas älter. An dem Tag war sie mit einer Bekannten walken und lief vorbei, als wir den Mann und das Mädchen zum ersten Mal angesprochen haben. Da habe ich die beiden Frauen aufgehalten, damit wir einfach mehr sind. Danach haben wir uns noch kurz unterhalten und ich meinte, ich rufe entweder das Jugendamt oder die Polizei. Also sind die beiden weitergelaufen. Als die Dame die beiden später aber noch mal gesehen hat, dachte sie, ich hätte doch nicht die Polizei gerufen, und hat das Mädchen mehr oder minder aus seinen Armen befreit – wobei es das in dem Moment eigentlich „freiwillig“ gemacht hat, oder wie man das nennen möchte. Dann kam aber schon direkt die Polizei. Für die Dame war das natürlich total aufregend auf ihre alten Jahre. Jeder, der sie kennt, kennt die Geschichte inzwischen in- und auswendig.
Dass man einen Straftäter fasst, erlebt man ja auch nicht alle Tage. Wie hat diese Erfahrung Sie selbst geprägt?
Das Ganze ist jetzt ein Jahr her. Aber mit der Preisauszeichnung letzte Woche macht man sich wieder mehr Gedanken. Ich gehe nicht mehr allein im Dunkeln raus und auch nicht mehr allein joggen. Ich merke, dass ich gerade wieder mehr Angst habe und vorsichtiger bin. Man zweifelt ein bisschen an der Menschheit, wenn man mit so etwas Negativem konfrontiert ist. Da steht erstmal jeder Mann unter Generalverdacht. Letztes Jahr, als es aktuell war, war es besonders schlimm. Ich hatte Bilder im Kopf, die dann erstmal nicht mehr weggegangen sind. Aber eigentlich will ich gar nicht so ein negatives Menschenbild haben. Ich versuche immer, optimistisch und positiv zu sein.
Wie sind Sie mit diesen Gefühlen umgegangen?
Darüber zu reden, war immer ganz wichtig für mich: mit meiner Familie und mit meinem Freund, der mir wirklich viel geholfen hat. Auch mit der Freundin, mit der ich zusammen im Wald war. Es war gut, immer wieder bestärkt zu werden und auch von der Polizei zu hören, dass wir alles richtig gemacht und einen jahrelangen Missbrauch beendet haben. Und was mir immer wieder Positives gibt, ist natürlich die Arbeit. Es ist so schön, das Feedback der Schüler zu hören: „Tanzen macht Spaß und es ist so cool bei euch.“ Ich selbst finde es hier auch einfach schön. Ich habe vor 15 Jahren meine Ausbildung bei Willius-Senzer begonnen, wurde danach übernommen und bin auch geblieben, als ich wieder zurück in meine Heimat gezogen bin.
Hat Sie der Vorfall im Wald in Ihrer Arbeit als Tanzlehrerin beeinflusst? Gehen Sie jetzt anders mit Ihren jugendlichen Schülern um?
Als Tanzlehrerin spürt und sieht man ohnehin vieles und kriegt auch sehr viel erzählt. Die Schüler vertrauen sich oft Leuten an, die eher ein bisschen außen stehen. Jetzt habe ich meine Schüler aber noch mal besonders darauf aufmerksam gemacht, dass es wichtig ist, über gewisse Dinge zu reden – wenn nicht mit den Eltern, dann zumindest mit Freunden, der Cousine, dem Vertrauenslehrer. Wenn man ein ungutes Gefühl hat, sollte man sich im Zweifel immer irgendwo Hilfe holen. Vor allem die Mädchen habe ich versucht, darin zu bestärken. Denn oft spielt das Schamgefühl eine große Rolle oder sie wurden schon so sehr manipuliert, dass sie denken, sie dürfen das niemandem erzählen. So war das auch mit dem Mädchen im Wald. Sie war minderjährig und naiv, der Mann war deutlich älter und hat sie bewusst manipuliert. Und das ist einfach falsch.
Hatten Sie seitdem denn noch mal Kontakt zu ihr?
Sie hatte mich damals über Facebook kontaktiert und mir geschrieben. Sie hat sich bedankt, auch im Namen ihrer Familie, und meinte, dass ich damals zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Jetzt schreiben meine Freundin und ich manchmal mit ihr. Im Sommer waren wir mal Eis essen, jetzt gehen wir zusammen auf den Weihnachtsmarkt.
Hat sie bei diesen Gelegenheiten mit Ihnen über das gesprochen, was damals passiert ist?
Nicht viel. So ein Trauma muss man aber auch erstmal verarbeiten, oft verdrängt der Körper das ja erstmal. Sie hat aber erzählt, dass der Mann sie in fast allem angelogen hat. Das Einzige, was gestimmt hat, war wohl sein Name.
Er hat sich also jünger ausgegeben?
Viel jünger. Und gesagt, dass er krank ist, weswegen er so alt aussieht. Am Anfang hat er nur mit ihr geschrieben, Vertrauen aufgebaut. Das war damals mitten in der Corona-Zeit, vor dreieinhalb Jahren. Das ist genau die Masche, das ist dieses Cybergrooming. Erwachsene Männer, die über das Internet die jungen Mädels anschreiben…
Hatten Sie auch noch mal Kontakt zu dem Mann?
Nein. Ich hoffe einfach, dass er schnell verurteilt wird und keinen Zugang mehr zum Internet bekommt. Gerade am Anfang habe ich aber oft über die Familie des Mannes nachgedacht. Es stellte sich nämlich heraus, dass er eine Frau und zwei kleine Kinder hat. Mit dieser Nachricht wurde diese Familie natürlich zerrüttet. Aber es war für was Gutes. Ich bin total stolz, dass wir in dem Fall vielleicht mehreren Dutzend Mädels das Leben gerettet haben – oder ihnen zumindest geholfen haben, da rauszukommen.
Was Sie an dem Tag geleistet haben, wird ja bald erneut im Fernsehen gezeigt: Am 11. Dezember treten Sie zusammen mit den anderen Gewinnern des XY-Preises live bei „Aktenzeichen XY“ im ZDF auf. Freuen Sie sich darauf?
Ja, auf jeden Fall. Das ist schon eine große Ehre. Wobei die anderen Gewinner-Fälle natürlich auch total wichtig waren. Ich glaube, das soll auch noch mal darauf aufmerksam machen, dass es was bewirken kann, wenn man etwas sagt. Das Bauchgefühl darf man nicht unterschätzen, wenn es einem sagt, dass eine Situation komisch ist. Das gilt für alle: sich öfter mal einschalten und fragen, ob alles in Ordnung ist. Aufeinander aufpassen.
Vielen Dank für das Gespräch!