Fehlurteil nach Kindesmisshandlung? Rechtsmedizinerin: „Ich hatte Recht“

Es war das Ende ihrer Karriere: 2013 stellte die Mainzer Rechtsmedizinerin Bianca Navarro den Verdacht auf, dass der einjährige Leon misshandelt wurde – doch die Gerichte glaubten ihr nicht. Ein neues Gutachten könnte den Fall jetzt wieder aufrollen.

Fehlurteil nach Kindesmisshandlung? Rechtsmedizinerin: „Ich hatte Recht“

Nach einem angeblichen Falschgutachten war der Ruf der Mainzer Rechtsmedizinerin Bianca Navarro (49) ruiniert. Die Gerichte warfen ihr „grobe Fahrlässigkeit“ vor, als sie in einem Gutachten zu dem Schluss kam, dass ein einjähriges Kind misshandelt wurde. Die Misshandlung habe nie stattgefunden, die Kinder seien ihren Eltern zu Unrecht entzogen worden.

Die 107.000 Euro Schadensersatz, den die Familie damals erhielt, will sich die Versicherungskammer Bayern in einem aktuellen Gerichtsverfahren von Navarro zurückholen. Doch dabei stellt sich heraus: Die Mainzerin hatte offenbar doch recht.

Wie alles begann

Jahrelang war Navarro als Rechtsmedizinerin deutschlandweit gefragt. Ihr Spezialgebiet: Kindesmisshandlung. Sie untersuchte 6500 Verdachtsfälle, erstellte Gutachten für Gerichtsverfahren, beriet Jugendämter, hielt Vorträge, war unter anderem bei Günther Jauch in „stern TV“ zu Gast. 2008 erhielt sie den Kinderschutzpreis des Kinderschutzbundes Rheinland-Pfalz.

„Ich war mit Leib und Seele Rechtsmedizinerin, das war mein Leben“, erzählt Navarro im Merkurist-Gespräch. „Und dann kam dieser Fall dazwischen.“ Es war der Fall des anderthalbjährigen Leon und seines jüngeren Bruders im Jahr 2013. Das Jugendamt beauftragte Navarro damit, eine Einschätzung über mögliche Misshandlungen zu treffen. Das Amt hatte die Familie schon eine Weile beobachtet, es gab die Vermutung, dass die Kinder vernachlässigt und sogar geschlagen werden könnten.

Hinzu kam: Bei Leon waren nach einem leichten Autounfall Hirnblutungen festgestellt worden, sein Bruder kam mehrere Monate später mit plötzlichem Atemstillstand ins Krankenhaus. Navarros Fazit: Beim jüngeren Bruder gebe es anhand der Krankenhausdokumente „keine sicheren Hinweise“ für eine Misshandlung. Leons Blutungen hingegen seien nicht mit dem Autounfall zu erklären, sondern „hochgradig verdächtig“ für ein Schütteltrauma. Womöglich sei das Kind mehrfach geschüttelt worden.

Von Expertin zu „Schlampig-Gutachterin“

Das Jugendamt reagierte sofort: Nach Navarros Gutachten entzog sie den Eltern beide Kinder und brachte sie in eine Pflegefamilie. Doch Leons Eltern klagten vor dem Familiengericht, wollten ihre Kinder zurückhaben. Ein weiteres Gutachten wurde erstellt, dieses Mal von einem Kinderarzt. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass Leons Hirnblutungen mit einer familiär vererbten Makrocephalie zu erklären seien, in dieser Form auch Wasserkopf genannt. Eine Misshandlung sei „sehr unwahrscheinlich“. Nach sechs Monaten Trennung kamen Leon und sein Bruder schließlich wieder zu ihren Eltern.

Damit begann der Albtraum für die Mainzer Rechtsmedizinerin. Denn Leons Eltern verklagten Navarro und die Mainzer Unimedizin, bei der sie angestellt war, auf Schadensersatz. Das Mainzer Landgericht (LG) urteilte 2015 zugunsten der Familie. Die Richter beriefen sich auf den vom Kinderarzt festgestellten Wasserkopf und verurteilten Navarro zu Schadensersatz. Ihr Gutachten sei „grob fahrlässig“. Von den Medien wurde Navarro zerrissen, „Bild“ titelte damals mit der Schlagzeile „Gerichts-Ohrfeige für Schlampig-Gutachterin“.

Navarro wollte das nicht auf sich sitzen lassen und zog 2016 vor das Oberlandesgericht (OLG) in Koblenz. Dieses urteilte zwar, dass nicht die Rechtsmedizinerin selbst haften müsse, sondern das Jugendamt, das sie beauftragt hatte. Doch in ihrem Urteil wie auch vor den Medien betonten die Richter, dass sie Navarros Gutachten ebenfalls für „grob fahrlässig“ hielten.

„Ich wusste zwar, ich habe Recht. Aber ich hatte mich damit abgefunden, dass ich es nicht beweisen kann. Wie auch?“ – Bianca Navarro

Nach den Gerichtsurteilen erhielt Navarro keine Aufträge mehr in Rheinland-Pfalz – weder in Fällen von Kindesmisshandlung noch für andere gerichtsmedizinische Fälle. Auch die Mainzer Unimedizin wollte sie nicht weiter beschäftigen. „Ich habe meine komplette Karriere verloren“, sagt sie. „Ich habe ständig Drohanrufe bekommen.“

Es seien einige sehr schwere Jahre für sie gewesen. „Ich wusste zwar, ich habe recht“, erzählt Navarro. „Aber ich hatte mich damit abgefunden, dass ich es nicht beweisen kann. Wie auch?“ Revision beim Bundesgerichtshof konnte sie nicht einlegen, denn: „Es wurde beim OLG Koblenz ja festgestellt, dass ich die falsche Beklagte bin“, erklärt Navarro. Im Laufe der Zeit habe sie schließlich an sich selbst gezweifelt. „Ich dachte irgendwann: Wenn zwei gerichtliche Instanzen so urteilen, dann muss ja irgendwas dran sein.“

Neues Gutachten gibt Navarro recht

Doch ausgerechnet in einem Verfahren, das ihr noch weiter hätte schaden können, könnte sich jetzt alles wenden. Aktuell wird Navarro wieder vor dem Landgericht Mainz auf Schadensersatz verklagt. Dieses Mal ist es nicht Leons Familie, sondern die Versicherungskammer Bayern. Die will sich von der Rechtsmedizinerin die 107.000 Euro Schadensersatz zurückholen, die sie stellvertretend für das Jugendamt an die Familie ausgezahlt hatte. Das Gericht gab ein neues Gutachten in Auftrag, das untersuchen sollte, ob Navarros Einschätzung von 2013 tatsächlich „grob fehlerhaft“ war.

Das Ergebnis: Navarros Gutachten sei nicht grob fahrlässig. Es sei auch nicht fehlerhaft. Stattdessen kommen die Rechtsmediziner Graw und Penning von der Ludwig-Maximilians-Universität München zu dem gleichen Schluss wie Navarro vor zehn Jahren: Es bestehe der „dringende Verdacht“, dass Leon misshandelt wurde.

Fehler beim Gerichtsprozess?

„Wenn man es jetzt so schwarz auf weiß liest, dass ich recht hatte – und dann noch von den zwei renommiertesten Professoren überhaupt in der Rechtsmedizin“, antwortet Navarro auf die Frage, wie sie sich jetzt fühlt. „Ich habe einfach all die Jahre umsonst gelitten.“ Für sie stehe fest, wer dafür verantwortlich sei. „Die Richter am Landgericht Mainz waren diejenigen, die schlampig gearbeitet haben, nicht ich.“

Gegenüber Merkurist kritisiert Navarro nicht nur die Urteile, sondern den gesamten Prozess. Ihr Antrag auf ein Drittgutachten sei sowohl am LG als auch am OLG abgelehnt worden, da die Richter ihre eigene Sachkunde für ausreichend hielten. Das steht den Richtern in einem Zivilverfahren grundsätzlich zu. Doch dass sie keine weitere Expertenmeinung einholten, obwohl sie zwei widersprüchliche Gutachten vor sich hatten, könne Navarro nicht nachvollziehen.

Darüber hinaus wirft sie den Richtern vom Mainzer Landgericht Fehler in der Prozessführung vor. Dort hatte sie beantragt, den Kinderarzt zu befragen, der das andere Gutachten erstellt hatte. Das hätte ihr auch rechtlich zugestanden. Doch die Richter lehnten ab, der Kinderarzt konnte bei der Verhandlung nicht befragt werden. „Mir wurde nicht die Möglichkeit gegeben, mich adäquat zu verteidigen“, sagt Navarro heute. Hätte sie diese Gelegenheit gehabt, so ihre Überzeugung, wäre der Prozess sicher von Anfang an anders ausgegangen.

„Nie wieder so wie vorher“

Am 15. November 2023 geht das Verfahren in Mainz in die mündliche Verhandlung. Auch wenn dort, wie das neue Gutachten vermuten lässt, Navarros Unschuld festgestellt wird: „Es wird nie wieder so sein, wie es vorher war“, sagt sie. „Ich hoffe einfach nur, dass die Auftraggeber mir nach dem Urteil wieder eine Chance geben. Ich wünsche mir sehr, dass ich bald wieder Gutachten für die Staatsanwaltschaften in Strafverfahren erstellen und Gerichtstermine als Sachverständige wahrnehmen kann.“

Der Vorsitzende Richter bei Navarros erstem Verfahren am LG Mainz hat sich auf Merkurist-Anfrage nicht zu den oben genannten Vorwürfen geäußert. Auf Anfrage an das OLG Koblenz heißt es, dass die Richter ihre Urteile und Entscheidungen generell nicht gegenüber der Presse kommentieren würden. „Die Urteilsgründe sprechen für sich.“

Logo