10:30 Uhr: Knapp 20 Menschen in Winterjacken warten vor der Eingangstür der Heidelbergerfaßgasse 16. Die meisten schweigen, einige Paare unterhalten sich leise, ab und zu ist ein Husten zu hören. Ein Mann trinkt aus einer Schnapsflasche. Der Wintermorgen lässt die blassgrüne Fassade des Hauses noch schmutziger erscheinen, als sie ohnehin schon ist. Das Erdgeschoss ist mit grauen Fliesen verkleidet. Der einzige Farbtupfer ist der Schriftzug, der orange und rot auf den Schaufenstern prangt: „Mainzer Tafel e.V.“.
Um 10:34 Uhr dürfen die ersten Leute eintreten, vier Minuten nach der offiziellen Öffnungszeit. Laute Stimmen fliegen durch den Raum, an den Ausgabetheken werden immer noch Lebensmittel einsortiert: Brot, Gemüse, Obst, Fleisch, Milch- und andere Kühlprodukte. Heute kamen die Lieferwagen sehr spät – dafür aber mit besonders vielen Waren. „Es ist zwar schön, wenn wir viel bekommen, aber das ist dann auch hektisch“, ruft Renate über das Stimmengewirr, während sie an der Brotausgabe dunkle von hellen Brötchen trennt. „Da bräuchtest du dann eigentlich sechs oder acht Arme.“ Renate ist 70 und im Ruhestand, genauso wie die meisten anderen Ehrenamtlichen, die bei der Mainzer Tafel arbeiten. Fragt man sie, wie sie heißen, stellen sich alle nur mit ihrem Vornamen vor. „Wir duzen uns bei der Tafel.“
Die Tafeln in der Krise
Nur die Leute aus dem Vorstand sind es offenbar gewohnt, auch mit ihrem Nachnamen in der Öffentlichkeit zu stehen: vor allem der Vorsitzende Dieter Hanspach und Heidi Preuhsler, stellvertretende Vorsitzende. Rund 2000 Personen seien momentan bei der Mainzer Tafel angemeldet und dürften alle 14 Tage Lebensmittel abholen, erzählt Preuhsler – für mehr reichten die Kapazitäten nicht. Im Mai 2023 verhängte der Verein einen Aufnahmestopp und ließ erst im Januar 2024 wieder einige Anmeldungen zu. Deutschlandweit berichten Tafeln von Schwierigkeiten, Hilferufe werden laut: Syrien-Krieg, Corona, jetzt der Krieg in der Ukraine. „Unsere Tafeln sind im Dauerkrisenmodus“, sagt Andreas Steppuhn, Vorsitzender des Dachverbandes der Tafel Deutschland, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). In Mainz sei der Andrang allerdings noch nie so groß wie jetzt gewesen, erzählt Preuhsler: „Es ist extrem seit dem Ukraine-Krieg. So viele Flüchtlinge wie da hatten wir selbst 2015 und 2016 nicht.“
Um die genaue Zahl herauszusuchen, tippt die 71-Jährige etwas in den Computer im kleinen Büro, das hinter der Ausgabehalle versteckt ist, genau zwischen Kühl- und Pausenraum. Im Pausenraum tummeln sich gerade besonders viele Helfer: Nachdem die Tafel-Fahrer die Spenden von Supermärkten, Bäckereien und Hofläden abgeholt haben, sitzen sie zusammen, essen belegte Brötchen und lachen. Ihre Stimmen vermischen sich mit den Geräuschen aus der Ausgabehalle: Kisten scharren, Einkaufstüten rascheln, dutzende Leute rufen durcheinander. Immer wieder ertönt das Piepen des Scanners, der die Ausweise der Abholer erfasst. Hinter der geschlossenen Bürotür verstummt alles jedoch zu einem dumpfen Summen. „55 Prozent sind Ukrainer“, sagt Preuhsler schließlich.
„Die bemühen sich“
Ob in ganzen Sätzen oder mit Unterstützung von Händen und Füßen: In der Ausgabehalle laufen fast alle Gespräche auf Deutsch. „Die bemühen sich, die Ukrainer“, meint Preuhsler. Über Begrüßungen und Lebensmittelwünsche geht es jedoch selten hinaus – egal, welche Muttersprache die Kunden haben. Viele scheinen es eilig zu haben, sind auf das Wesentliche fokussiert: Lebensmittel für sich selbst und ihre Familien zu besorgen. Auf die Frage, ob er für einen Zeitungsartikel vielleicht ein paar Fragen beantworten würde, zuckt ein älterer Herr mit Wollmütze nur mit den Schultern und verfällt in eine andere Sprache. Am Empfang hatte er noch Deutsch gesprochen. „Einige kennt man, die erzählen von sich aus“, sagt Preuhsler dazu. „Aber das sind die wenigsten.“
Zu diesen wenigen gehört Frau Schäfer. Frau Schäfer ist 72 Jahre alt, sieht aber deutlich jünger aus. Die weißen Haare trägt sie kurz, der Schwerkraft trotzend stehen sie nach oben ab. Früher hat sie in Mainz als Floristin gearbeitet, seit der Rente kommt sie jedoch regelmäßig zur Tafel. „Das Geld reicht nicht so“, sagt sie. Vor allem die Inflation habe sie besonders belastet. Laut Statistischem Bundesamt waren Nahrungsmittel Ende 2023 knapp 33 Prozent teurer als noch drei Jahre zuvor – die Renten sind in der gleichen Zeit allerdings nur um 10 Prozent gestiegen. In den fünf Jahren, die sie bereits zur Tafel kommt, habe sich einiges verändert. „Es sind viel mehr Leute und auch mehr böse Leute“, sagt Frau Schäfer. „Viele wollen sich vordrängeln.“ Auch Preuhsler erzählt von mehr Konflikten zwischen den Kunden – vor allem seit dem hohen Andrang, den die Flüchtlingsströme aus der Ukraine mit sich gebracht hätten. „Es gibt wohl hin und wieder Unmut vor der Tür, aber da mischen wir uns nicht ein.“
„Man muss es den Leuten nicht noch schwerer machen“
Vor der Tür warten jetzt, wenige Minuten vor der Schließung, schon längst andere Menschen als noch am Morgen. Doch auch sie sind alle in dicke Winterjacken gehüllt und schweigen, den Kopf nach unten gerichtet. Ein Passant auf der anderen Straßenseite wirft ihnen einen langen Blick zu, beschleunigt seinen Schritt und geht weiter. Die Leute in der Schlange beachten ihn nicht. Sobald sie die Tafel betreten, hellen sich die meisten Gesichter etwas auf. „Wenn man mal lächeln kann, dann lächeln die Leute auch zurück“, erklärt Alex, während er leergewordene Kisten stapelt. Der 61-Jährige ist schon bei der Tafel, seit sie vor 22 Jahren gegründet wurde. „Es ist ja schon nicht schön, wenn man hierherkommen muss. Da muss man es den Leuten nicht auch noch schwerer machen.“
13 Uhr: Die letzten Kunden verlassen die Ausgabe. Die Obst- und Fleischtheken sind wie leergefegt, Brot, Salat und Paprika sind jedoch in Massen übrig. Zwei Mitarbeiter der Mainzer „Foodsharing“-Initiative holen die Reste ab. Die Tafel-Helfer atmen schwer auf, vielen der Älteren steht der Schweiß auf der Stirn. Während sich das Team ans Aufräumen macht, stehen zwei junge Männer vor der Tür und schauen auf den Aushang. Nach kurzem Zögern treten sie ein und gehen auf die 75-jährige Christa zu, die noch immer am Empfang sitzt. Sie zeigen ihre Sozialausweise vor, Tafelausweise haben sie jedoch nicht dabei. „Sie müssen sich erstmal online bei uns anmelden“, sagt Christa. „Das geht aber gerade noch nicht.“ Die Männer schauen sie verwirrt an. „Only Arabic“, sagt einer von ihnen schließlich in gebrochenem Englisch. Erst als Christa ihnen die Internetadresse auf einen Zettel schreibt, scheinen sie zu verstehen. Sie nicken ihr zu und gehen aus der Tür, zurück in den grauen Wintertag.